Für ein Musiktheater, dessen Kernkompetenz die Oper ist, ist es immer eine besondere Herausforderung, ein großes Musical aufzuführen, das nicht für solche Häuser erdacht wurde. Gemessen an dem großen Applaus, der sich am Ende zu rhythmischem Klatschen und Standing Ovations im voll besetzten Zuschauerraum des Staatstheaters steigerte, ist dieses Wagnis voll aufgegangen. Dass dennoch nicht alle Blütenträume reiften, lag ganz sicher nicht am emotional packenden und zugleich doch auch unterhaltsamen Musical von Andrew Lloyd Webber, dessen Beginn fast an eine „Cavalleria rusticana“ erinnert und eine Art Verismo innerhalb der Gattung Musical markiert. Große ausladende Melodien, die sich gerne auch mal wiederholen, prägen das Werk.
Die Orchesterleistung unter dem Dirigenten Alexander Merzyn war jedenfalls tadellos. Auch die großen Ensembles mit Chor und Tänzern rissen mit, die Silvester-Party noch weit mehr als die Introduktion, bei der Wünsche hinsichtlich der Präzision offen blieben. Die Ausstatterin Barbara Krott arbeitete mit einer Drehbühne, die zwischen den Hollywood-Studios und Normas Villa hin und her wechselte. Dass die sicher werkgerechte Inszenierung von Klaus Seiffert dennoch nicht hundertprozentig zündete, lag an einem Kardinalfehler in der Zusammenstellung der Besetzung: Beide Hauptdarsteller waren jeder für sich gut, passten aber überhaupt nicht zueinander! Die Handlung lebt ja von der Spannung zwischen der gealterten Diva, die ihren Zenit deutlich überschritten hat, und dem jungen Mann, der sein Leben eigentlich noch vor sich hat.
Dem langgedienten und hochverdienten Ensemblemitglied Hardy Brachmann kann man gar keinen individuellen Vorwurf machen: Besser als er kann kein Opernsänger Musical singen – stimmlich und sprachlich absolut hervorragend! Dafür, dass diese Rolle für ihn mindestens zehn Jahre zu spät kommt, kann er nichts, er vollbrachte als Joe die bestmögliche Leistung. Hätte man ihm nun eine Carola Fischer oder eine andere Dame ähnlichen Alters an die Seite gestellt, hätte das vielleicht sogar funktionieren können, aber der eingekaufte Musical-Gast Isabel Dörfler wirkte bestenfalls gleichaltrig, wenn nicht jünger. Das funktioniert dann leider im Zusammenspiel nicht, zumal eine Musical-Spezialistin auch völlig anders singt und artikuliert als ein Opernsänger. Mit Gesine Forberger, die in zwei Mini-Rollen (als Ärztin und Reporterin) demonstrierte, wie gut sie auch Musical kann, hätte das als Norma neben Brachmann vielleicht klappen können, aber Dörfler und Brachmann zusammen, das geht so nicht! Vielleicht ist sie auch noch nicht alt genug für diese Rolle, vielleicht fehlte aber auch einfach nur ein junger Musical-Partner an ihrer Seite und es hätte wieder gestimmt. Im ersten Monolog hätte ihre Stimme etwas ausladender sein dürfen, aber ansonsten kann man ihr nichts vorwerfen, hat sie einen guten Job gemacht.
Trotzdem war es bemerkenswert, dass beim Schlussapplaus beide Hauptdarsteller nicht sensationell absahnten – ganz im Gegensatz zu Heiko Walter als Diener Max von Mayerling, der in der Höhe teilweise sehr geschickt falsettierte und sehr eindrücklich spielte. Hätte Debra Stanley etwas weniger Akzent bei der deutschen Aussprache (man spielte die deutsche Übersetzung von Michael Kunze), wäre sie eine sehr gute Betty Schaefer gewesen. Ulrich Schneider stellte als Cecil gesanglich etwas zu sehr seinen Donnerbass aus, das klang fast mehr nach Hagens Mannen-Rufen als nach Musical, ansonsten gab er aber ein glaubwürdiges Rollenportrait. Wie sehr dieses Werk das ganze Haus beansprucht und wie sehr in Cottbus der Ensemblegedanke noch lebt, konnte man schon daran sehen, dass eigentlich alle mit auf der Bühne waren: vom Mezzo-Ensemble-Urgestein Carola Fischer über den langjährigen Tenorhelden Jens Klaus Wilde und den Stamm-Buffo Dirk Kleinke bis hin zur Haus-Elektra Gesine Forberger – sie und alle anderen jetzt nicht Erwähnten gaben in ihren kleinen Rollen ihr Bestes und dieses Zusammenspiel aller Kräfte sorgte dann eben doch noch für einen gelungenen Abend, der allein aufgrund des Missverhältnisses zwischen dem Protagonisten-Paar eigentlich unter keinem günstigen Stern stand.
Fazit: Es war mein dritter Besuch im Staatstheater Cottbus im Kalenderjahr 2017 – und nach einem stimmlich und szenisch ziemlich unbefriedigenden „Mahagonny“ und einem in jeder Hinsicht herausragenden „Wozzeck“ (abgesehen vom Sänger des Andres eine Sternstunde!) landet „Sunset Boulevard“ meines Erachtens im Mittelfeld der Möglichkeiten des Cottbuser Staatstheaters, geriet aber durchaus zur Freude des anwesenden Publikums.
Ivo Zöllner 20.10.2017
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Bilder (c) Staathestheater Cottbus