Darmstadt: „Otello“, Giuseppe Verdi

Lieber Opernfreund-Freund,

gestern hatte in Darmstadt die Neuproduktion von Verdis Otello Premiere. Was mit einem zumindest interessanten Konzept beginnt, endet in einem Regiedesaster. Paul Georg-Dittrich und sein Team vergessen nämlich eines völlig: Verdis Otello.

© Martin Sigmund

Oper muss neue Wege gehen, um auch weiterhin Zuschauer aller Altersgruppen zu erreichen und für sie interessant zu sein. Deshalb fand ich es spannend, dass das Staatstheater Darmstadt versucht, den Abend interaktiv zu gestalten: Das Publikum wird zu Beginn ausdrücklich dazu aufgefordert, die Handys nicht auszuschalten, sondern an den immer wieder eingeblendeten Entscheidungsfragen per Wahl teilzunehmen. Eingebettet ist das Ganze in die Regieidee, dass Otello ein Computerspiel ist, mit dem sich gelangweilte Verwaltungsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter in den Pausen den öden Arbeitsalltag versüßen. So weit, so gut! Es zeigt sich allerdings, dass dieser Ansatz eher viel versprechend als vielversprechend ist – zumal das Regieteam der eigenen Idee nicht traut und nach der Pause selbst in den „Tilt“-Modus fällt.

Zu Beginn habe ich lediglich den Eindruck, dass Paul-Georg Dittrich da und dort ein wenig übers Ziel hinausschießt: Lukas Rehm hat aufwändige Videos produziert, die Szenen aus einem Videospiel zeigen. Die Charaktere werden vorgestellt und der Spieler muss immer wieder Entscheidungen treffen – etwa, ob zuerst ein Hospital oder eine Schule gebaut werden soll oder ob man den Gegner angreift oder es lieber mit Diplomatie versucht. In diese Entscheidungen ist das Publikum per Handy eingebunden, Fragen ploppen auf, wenig später wird das Abstimmungsergebnis präsentiert. Das aber hat lediglich Einfluss auf im Hintergrund gezeigten Videos, die Handlung selbst kann man naturgemäß nicht beeinflussen. Immer wieder wird eine Art bespielbarer Bildschirm auf die Bühne herabgelassen, in dem in Guckkastenmanier Teile der Handlung stattfinden (Bühne und Kostüme: Anika Marquardt und Anna Rudolph). Zusätzlich laufen auf Bildschirmen Videospielsequenzen – und im Zentrum des Ganzen gibt es natürlich noch Otello. Es ist also allerhand los in den ersten beiden Akten, fokussieren kann man sich vor lauter Einblendungen von allen Seiten auf gar nichts. Dazu soll man ausgerechnet in den Schlüsselszenen über Banalitäten abstimmen, statt sich auf die Handlung zu konzentrieren. Aber zu diesem Zeitpunkt funktioniert der Regieansatz zumindest noch.

© Martin Sigmund

Das ändert sich abrupt nach der Pause. Nun scheinen sich die Videospielfiguren im Keller des Bürokomplexes verselbständigt zu haben, umtanzen einen überdimensionalen Berg an geschredderten Akten. Wie im Fehlermodus agieren sie nun außer Rand und Band, unterstützt von zu Zombies mutierten Verwaltungsfachangestellten, und auch das Regieteam scheint in den Tilt-Modus gefallen. Das Motto „mehr ist mehr“ wird auf die Spitze getrieben, indem den Zuschauern eine Flut an gesellschaftspolitischen Themen völlig ungeordnet entgegengeschleudert wird: mit erhobenem Zeigefinger wird auf Grenzsicherung, Kulturaneignung und Kriegsverbrechen hingewiesen, später werden noch Zwangsausbürgerung und Missbrauch von Frauen thematisiert. Das sind alles wichtige Themen unserer Zeit, doch hätte ein wenig mehr Bezug zum Werk nicht geschadet. Irgendwie beschleicht mich die Hoffnung, dass Hape Kerkeling gleich aus dem Aktenschredderberg auftaucht und „Hurz!“ ruft, damit das alles noch irgendeinen Sinn ergibt. Vergebens…

Nach dem minutenlangen Besinnungsaufsatz, den der als Montano stimmlich auftrumpfende Zaza Gagua zwischen den letzten beiden Akten zu rezitieren hat, fühlt sich sogar das ansonsten als gesittet geltende Darmstädter Premierenpublikum zu Zwischenrufen wie „nächstes Mal bitte wieder das Original“ genötigt und auch ich ertappe mich zwischendurch bei dem Gedanken, dass ich eigentlich gerne wieder Verdi hören würde. Denn der gerät in dem Wust aus Regiemätzchen völlig in Vergessenheit und das ist die eigentliche Tragödie des Abends: dass die Tragödie, die Shakespeare aufgeschrieben und Verdi so genial vertont hat, völlig in den Hintergrund tritt.

© Martin Sigmund

Ähnlich geht es mit der musikalischen Seite des Abends: wer von den Premierenbesuchern wird heute am Tag nach der Premiere davon sprechen, dass Gaston Rivero den Otello mit nicht enden wollender Kraft und immensem Farbenreichtum interpretiert hat? Wer erinnert sich an den bühnenpräsenten, stimmgewaltigen Jago von Aris Argiris, wer an die engelsgleichen Töne, die Megan Marie Hart ihrer Desdemona im letzten Akt mitgibt? Wer erzählt seinem Nachbarn, dass Daniel Cohen im Graben mit zupackendem und wuchtigem Dirigat überzeugt hat, wer berichtet vom tadellos singenden Chor unter der Leitung von Alice Meregaglia? Dass das Regieteam überhaupt nicht zu interessieren scheint, ob das, was es vermitteln wollte, auch angekommen ist, zeigt sich tragisch im Schlussapplaus: im Buh-Orkan noch feixend lachend verstehen Paul-Georg Dittrich & Co. gar nicht, dass das Publikum sie nicht verstanden hat.

Von mir also eine klare Besuchs-Warnung! Schauen sie lieber zu einer der gelungeneren Produktionen im Staatstheater der Jugendstilstadt vorbei.

Ihr Jochen Rüth 26. Februar 2024


Otello
Oper von Giuseppe Verdi
Staatstheater Darmstadt

Premiere: 25. Februar 2024

Regie: Paul-Georg Dittrich
Video: Lukas Rehm
Musikalische Leitung: Daniel Cohe
Staatsorchester Darmstadt

weitere Vorstellungen: 10. März, 1. und 19. April, 9. und 17. Mai sowie 14. und 29. Juni