Sensationeller Doppelabend
Manfred Gurlitt | Alban Berg | Zwei Opern nach dem Dramenfragment Woyzeck von Georg Büchner
Premiere am 27.10.2013
Eine fulminante Doppelproduktion, bei der alles stimmt
Dass zwei Opern den gleichen Stoff behandeln, ist nicht selten. Dass mehrere Komponisten das gleiche Libretto vertonen, ist seit Metastasio unüblich geworden. Dass zwei Komponisten gleichzeitig und unabhängig voneinander von dem gleichen Dramenfragment fasziniert werden und darauf eine Oper komponieren, ist wohl im Falle des Wozzeck einmalig. Manfred Gurlitt hatte Büchners Werk bei einer Aufführung am Residenztheater in München 1913 kennengelernt, wo er für die Bühnenmusik selbst verantwortlich war; Alban Berg sah das Stück ein Jahr später in Wien. Beide beschlossen spontan, den Büchner-Text zu vertonen. Berg war zuerst fertig und sah sein Werk 1925 in Berlin durch Erich Kleiber uraufgeführt. Wenige Monate später kam Gurlitts Version in Bremen zur Uraufführung, wo er zu der Zeit Generalmusikdirektor war. Gurlitt, der als Kulturbolschewist und wegen einer angeblich jüdischen Großmutter ab 1933 in Deutschland nicht mehr aufgeführt werden durfte, emigrierte 1939 nach Japan. Selbst dort behinderte ihn der lange Arm Goebbels‘ bei seiner Berufsausübung als Komponist, Dirigent und Lehrer. Er kehrte nach dem Krieg nicht mehr nach Deutschland zurück, wo sich auch niemand mehr für seine Werke einsetzte. Immerhin erhielt er einen Orden der BRD, gehörte aber letztlich zu der Gruppe von früher erfolgreichen Komponisten wie Schreker, Korngold, Braunfels oder Zemlinsky, die 1933 aus den Konzertsälen und von den Spielplänen der Opernhäuser in Deutschland verbannt wurden und die nach dem Krieg zunächst durch Nichtbeachtung noch einmal bestraft wurden. Stilistisch hat seine Musik mit den vorgenannten Zeitgenossen allerdings wenig gemeinsam.
Gurlitt: Anja Vincken (Marie), David Pichlmaier (Wozzeck)
Es ist ein besonderes Verdienst des Darmstädter Hauses, dass es sich des Gurlitt-Werks überhaupt annimmt, das immer noch so gut wie unbekannt ist. Das ist dem Büchner-Jahr zu verdanken. Es muss auch als Wagnis angesehen werden, dem Publikum an einem Abend den Stoff gleich zweimal anzubieten, dessen unfrohe Handlung keine leicht verdauliche Kost darstellt, dessen Texte zu über 80% die gleichen sind und der eine Modernität des Musikstils bietet, der noch immer nicht den Hörgewohnheiten des traditionsverhafteten Publikums entspricht. Diese Modernität von Text und Musik für beide Werke ist auch heute noch ein Schlüsselerlebnis, obwohl der Text fast 200 Jahre und die Musik fast 100 Jahre alt ist. Gurlitts Oper ist mit 70 Minuten Spielzeit kein abendfüllendes Werk; Sie muss mit einer anderen Oper zu einem Doppelabend kombiniert werden. Dass die Darmstädter den Stoff „mit sich selbst“ kombiniert haben, wird sicher eine Ausnahme bleiben und ist der speziellen Situation 2013 in Darmstadt geschuldet. Gurlitts Oper verdient mehr Aufmerksamkeit, Möglichkeiten zur Kombination mit anderen kurzen, großorchestrierten Opern aus der ersten Hälfte des 19.Jhdts. gibt es genügend.
Gurlitt: Lasse Penttinen (Doktor), David Pichlmaier (Wozzeck), Thomas Mehnert (Hauptmann)
Der Intendant des Darmstädter Staatstheaters John Dew gibt in seiner letzten Spielzeit in Darmstadt natürlich auch auf der Schauspielseite Büchners Werken viel Raum. Bei den beiden Wozzeck-Opern hat er zudem selbst die Regie übernommen. Sein „altersweiser Regiestil“ zeichnet sich durch große Klarheit und eine abgehobene Ästhetik aus, die ihn weder in Konflikt mit den Adepten des modernen Regietheaters bringt noch die Anhänger konventioneller Theaterkultur vergrault. Wie aber würde er an einem gut dreistündigen Abend zweimal den gleichen Stoff gut voneinander abgesetzt in Szene setzen? Das ist ihm – das sei vorab bemerkt – glänzend gelungen.
Gurlitt verwendet 18 Szenen aus Büchners Werk und Text und fügt einen Epilog hinzu. Die erste Doktorszene fehlt, die Texte sind stärker eingekürzt; ohne Zwischenmusiken reihen sich die Bilder aneinander, wodurch die Oper ca. eine halbe Stunde kürzer ist als Bergs „Standardwerk“. Dirk Hofacker hat eine seelenlose gebrochene Betonklotzarchitektur auf die Drehbühne gestellt; durch Bühnendrehungen und Verschiebungen werden in rascher Folge wie bei Fernsehüberblendungen die Spielflächen der einzelnen glaubhaft Szenen variiert; hinzu kommen spärliche Requisiten. Zusammen mit einer ausdrucksvollen Lichtregie (das Programm nennt für die Beleuchtungsregie mit John Dew, Dieter Göckel, Dirk Hofacker und Heiko Steuernagel gleich vier Verantwortliche) wird in der losen Szenenfolge die Aufmerksamkeit jeweils auf die Handelnden konzentriert. Eine in Bezug auf Klarheit und Verständlichkeit gelungene Regiearbeit mit stringenter Personenführung.
Gurlitt: David Pichlmaier (Wozzeck), Anja Vincken (Marie), Oleksandr Prytolyuk (Tambourmajor), Opernchor
Gurlitt benötigt für seine Musik ein großes Orchester: einen Apparat von fast 40 Streichern, alle Bläser vierfach, dazu Harfe und Schlagwerk. Er setzt den Klangkörper aber nicht in opulenten Tutti ein, sondern löst zu jeder Szene eine kleine Gruppe kammermusikalischen Charakters aus dem Orchester, womit er jeweils zu sehr spezifischen Färbungen kommt. Die Orchestermusik ist teils rein grundierend, teilweise begleitend und teilweise in polyphonen Kontrast zu den Gesangslinien gesetzt. Dazu erklingen Chorkommentare sowie kurze Passagen einer Sopranistin und eine Altistin aus dem Off. Ein richtiger Chorauftritt begleitet nur die Volksfestszene, zu welcher Gurlitt einen trivialen Onestepp komponiert hat (Berg verwendet hier einen Walzer). GMD Martin Lukas Meister leitete das souverän aufspielende Staatsorchester Darmstadt; die ausdrucksstarke und teilweise programmmusikalische Partitur und deren lapidare Kompromisslosigkeit bleibt im tonalen Bereich und endet in einer länger ausgedehnten Trauermusik, zu der im Epilog Wozzeck auf dem Seziertisch des Doktors endet.
Berg: Marco Schreibweiss (Mariens Knabe), Yamina Maamar (Marie), Ralf Lukas (Wozzeck)
Alban Berg: Dew lässt die ersten Szenen auf der nackten Bühne spielen. Spärliches Mobiliar wie ein Friseursessel mit kleinem Konsoltischchen oder gerade nur ein Stuhl (für Maries Wohnung), werden mit dem Hebewerk auf die Bühnenfläche gebracht. Dafür hat der Zuschauer einen Blick auf die grandiosen Beleuchtungsbrücken, die eindrucksvoll bewegt werden. Dann kommt aber als Kontrastprogramm eine Arztpraxis mit einem bühnenbreiten Vitrinenschrank und allerhand Ausstellungsmaterial heraufgefahren: Der Doktor hängt, bevor er sich mit Wozzeck über Schöpsenfleisch und Bohnen unterhält, seinen Mantel an einem Skelett auf. Auch zur Volksfestszene wird ein opulentes Bühnenbild präsentiert; das geht ganz hinten auf der riesigen Bühne auf, wo auch die Bühnenmusik platziert ist. John Dew präsentiert in der vorletzten Szene seine gesamte luxuriöse Untermaschinerie, mit deren vielfach abgeteilten Hebebühnen die Wellen des Sees imaginiert werden, in welchem Wozzeck ertrinkt. In dieser zweiten Oper wiederholt die Regie keine einzige Szene, keine einzige Bewegung aus der ersten. Aber es gibt doch eine Verklammerung der beiden Stücken in den überaus gelungenen, aussagestarken funktionalen Kostümen von José-Manuel Vázquez, der die gleichen Rollen sehr ähnlich und farblich jeweils gleich einkleidet; für das Gurlitt-Stück in schlichtem Biedermeier-Stil, für die Berg-Oper in der Mode um 100 Jahre in die zwanziger Jahre verschoben. Abgesehen von den beiden Ausstattungsschmankerln führt auch bei der Berg-Oper die starke Reduktion der Bilder zu einer eindrücklichen Konzentration auf die beiden Hauptfiguren Wozzeck und Marie und die schlaglichtartige Beleuchtung ihres Umfelds. Eine starke Inszenierung!
Berg: Ralf Lukas (Wozzeck), Thomas Mehnert (Doktor)
Natürlich stand auch bei der Berg-Oper wieder Martin Lukas Meister am Pult des Orchesters, das er zu einer Meisterleistung führte. Gewaltige emotionale Eruptionen kontrastierten mit feinsten Lyrismen. Selten hört man die Partitur so scharf und prägnant differenziert und mit so überzeugender Dynamik. Seine Musiker folgten ihm dabei mit bester Präzision. Glänzend auch der kurze Auftritt des von Markus Baisch einstudierten Chors. Ein schöner Einfall war auch, die Militärmusik quadrophonisch so in den Zuschauerraum einzuspielen, dass der Eindruck eines vorbeiziehenden Heeresmusikkorps entstand. Dass Dirigent und Orchester am Ende ebenso gefeiert wurden wie die Darmstädter Lieblingssänger, war eine gerechte Belohnung für diesen großen Orchesterauftritt.
Berg: Mitte: Joel Montero (Tambourmajor), Ralf Lukas (Wozzeck), Opernchor
Achtzehn Sänger waren zur Aufführung der beiden Stücke aufgeboten. Es wäre sicher interessant zu erforschen, warum die beiden Komponisten den gleichen Figuren teilweise ganz unterschiedliche Stimmlagen zugeschrieben haben. Es kommt allein dadurch auch zu einer differenzierten Personencharakterisierung, die vor allem bei den Figuren Hauptmann und Doktor hervorsticht. In der Titelrolle hat Gurlitt einen Bariton vorgesehen. David Pichlmaier gab ihn mit sehr jugendlicher Gestalt, wendigem Spiel und edlem schlanken Bariton. Berg hat die Rolle für einen Bassbariton gesetzt; hier begeisterte Ralf Lukas das Publikum, ein häufiger und gern gesehener Gast am Staatstheater, der mit seiner sonoren kräftigen Stimme eine Idealbesetzung dieser Rolle darstellte. Anja Vincken gab die Gurlitt-Marie mit schön eingedunkelter, geschmeidiger Mittellage, in der Höhe aber nicht ohne Härte und nicht so gut textverständlich. Auch diese Rolle setzt Berg etwas tiefer für einen dramatischen Sopran; sie wurde vom Darmstädter Publikumsliebling Yamina Maamar mit warmer Grundierung und schön leuchtenden Höhen gegeben. Thomas Mehnert sang den Gurlitt-Hauptmann und den Berg-Doktor jeweils mit gut fundiertem, warm strömendem Bass, und Minseok Kim war in beiden Opern für die Tenorrolle des Andres besetzt und gab sie mit klarer, hell timbrierter Stimme, wobei ihm die Berg-Partie sichtlich besser lag. Lasse Penttinen sang die bei Gurlitt deutlich kleinere Rolle des Doktors mit einem satten baritonalen tiefen Register und den giftigen Höhen eines Charaktertenors. Zudem gab Penttinen den 2. Handwerksburschen bei Berg. Seine Entsprechung in der Berg-Partitur fand er in Peter Koppelmann als Hauptmann, der aus seinem sonoren baritonalen Parlando zu unnatürlichen, parodistischen Höhen aufsteigen muss, die er mit Kopfstimme und auch im Falsett gestaltete: eine skurrile Charakterstudie. Oleksandr Prytolyuk gab den Gurlitt-Tambourmajor, dessen kräftiger, runder Bariton nicht ganz zu der Rolle des eitlen Prahlers passen wollte, für den er die passende Bühnenerscheinung mitbrachte. Bei Berg ist diese Rolle für einen Tenor gesetzt; Joel Montero gab ihn mit tenoraler Kraft und schönem Schmelz.Marco Schreibweiss spielte die Rolle von Mariens Knaben rührend mit großer Hingabe. Auch die vielen kleinen Rollen waren gut besetzt, so dass der Abend eine geschlossen hohe musikalische Leistungsdicht zeigte, die sich zusammen mit den gekonnten originellen Inszenierung zu einem Abend der Spitzenklasse ergänzte, in der die fulminante Berg-Aufführung den beherrschenden, nachhaltigen Eindruck hinterließ.
Berg: Ralf Lukas (Wozzeck), Yamina Maamar (Marie)
Publikumsbeschimpfung: In der Pause, noch vor dem stärkeren Teil des Abends hatten auf den besseren Plätzen im Parkett Dutzende von Premierenabonnenten vorgezogen, nach Hause oder in ein Restaurant zu gehen; es klafften große Lücken. Das spricht nicht gegen die Werke, sondern gegen das Kunstinteresse oder -verständnis dieses Teils des Publikums. John Dew hatte in seinem Beitrag zum Programmheft schon vorausschauend festgestellt, dass das deutsche Publikum bis heute Bergs Wozzeck gegenüber eine deutliche Reserve bewahrt hat. Aber in Frankfurt wäre niemand zur Pause gegangen…
Der Abend war gut besucht, aber auch nicht annähernd ausverkauft. Das Publikum feierte die Ausführenden anhaltend und mit Begeisterung. Empfehlung des Opernfreunds: Lassen Sie sich diesen grandiosen und interessanten Opernabend nicht entgehen. Der kommt wieder am 2. November und noch weitere vier Male bis zum 18. Januar.
Manfred Langer, 28.10.13
Unser besonderer Dank für die Überlassung der ausdrucksstarken Fotos gilt Barbara Aumüller