Premiere am 02.04.2015
Zypern liegt im Wilden Westen – gelungene ironische Umsetzung
Das Stadttheater Gießen, nun in der dreizehnten Spielzeit unter der unprätentiösen Leitung der Schweizer Intendantin Cathérine Miville geht bei der Programmierung der Opernsparte einen Weg, der von vielen anderen kleineren Theatern für zu riskant gehalten wird, und hat damit Erfolg: mindestens die Hälfte der Produktionen sind Raritäten, Ausgrabungen oder moderne Oper. Es wird Publikum aus nah und fern angezogen, das sich abseits des Operneinerleis (das genügend vom Fernsehen in Hochglanzaufführungen geboten wird) für Besonderheiten interessiert. In dieser Spielzeit stellte das Theater aus dem Belcanto-Bereich Donizettis „Linda di Chamounix“ wieder vor und wird mit Ernst Kreneks komischer Oper „Kehraus um Sankt Stephan“ auch wieder die moderneren Interessen bedienen.
An diesem Abend aber wurde ein Barock-Schmankerl geboten: Händels Oper Riccardo I in Telemanns Adaptation für das Gänsemarkttheater in Hamburg. Während Händel seinem Alterskollegen Bach sein Leben lang aus dem Weg ging, hatte er zu Telemann immer gute Beziehungen unterhalten und war ihm sicher nicht böse, dass dieser einige Händelopern in bearbeiteter Form in Hamburg herausbrachte. Riccardo I kam 1727 in London heraus; dem Werk war nur mäßiger Erfolg beschieden, ob wohl Händel mit der Figur Richard Löwenherz nach den vielen antiken Themen die englische Seele ansprechen wollte. Auch nach der Händel-Renaissance bleibt Riccardo I eine Seltenheit auf den Spielplänen der Opernhäuser (zuletzt bei den Karlsruher Händelfestspielen 2014, der Opernfreund berichtete) Telemanns Version ist in neuerer Zeit überhaupt nur einmal nachgespielt worden (1996 unter Nicholas McGegan).
Naroa Intxausti, Yannis François
Das Theater am Gänsemarkt in Hamburg wollte mit seinen 2000 Plätzen gefüllt sein. Öffentliche Unterstützung durch den Senat erhielt das Haus nicht, aber eine Reihe von Vorschriften: neben der Unterhaltung wurden Erbauung und Moral ein großer Stellenwert zugewiesen. Daher hatte sich schon in der Blütephase des Hauses unter Reinhard Keiser durchgesetzt, dass – damit das Publikum es verstehe – die Passagen mit dem erhobenen Zeigefinger auf Deutsch dargebracht wurden, während die Arien auf Italienisch gesungen wurden. Als Telemann Händels Riccardo 1929 in Hamburg herausbrachte, befand sich das Theater schon in seiner Spätphase. Aber der alten Tradition folgend übersetzte der Librettist Christoph Gottlieb Wend alle Rezitative ins Deutsche und fügte einige Arien auf Deutsch hinzu; Rezitative und die neuen Arien wurden von Telemann neu vertont. Er hatte damals die musikalische Leitung des Theaters inne. Die beiden fügten auch eine neue Figur ins Libretto ein: die Sprechrolle des „Philosophen“ Gelasius, der aber dem Geschmack der Zeit folgend kein Moralin verbreitete, sondern eher als Hanswurst gemeine Volksweisheiten verkündete und somit das ulkig-komödiantische Element gegenüber dem heroischen aufwertete.
Tomáš Král, Maddin Schneider, Naroa Intxausti
Der Regisseur der Gießener Neuproduktion, Balázs Kovalik (von seiner glänzenden Agrippina-Inszenierung 2013 dem Gießener Publikum noch in bester Erinnerung) trug dem unterhaltsamen Charakter des Stücks auch insofern Rechnung, als er selbst die heroischen Passagen mit einem doppelten Boden von Ironie und Satire unterlegte.
Die Handlung der Oper basiert auf dem historischen Richard Löwenherz, der nachdem er auf dem dritten Kreuzzug Sizilien verwüstet hatte – im „Kaiserreich“ Zypern landete, wo er sich mit seiner ihm (noch unbekannten) Braut Berengaria treffen wollte. Diese strandete ebenfalls in Zypern, wurde aber wegen ihrer Schönheit von „Kaiser“ Isaak Komnenos (in der Oper: Isacius) zur Frau erkoren. Den britischen Heerführer Richardus wollte der Kaiser mit seiner Tochter Formosa abspeisen, die aber schon seinem Feldherrn Orontes versprochen war, der aber ebenfalls Berengaria nachsteigt. Verkleidungskomödie, Hin- und Her, schließlich sitzt im lieto fine jeder im richtigen Kästchen.
Maddin Schneider, Francesca Lombardi Mazzulli
Kovalik verlegt die Handlung in den Südwesten der USA in die jüngste Vergangenheit. Dabei gelingt ihm die Adaptation des Personals fast reibungslos, während die geographischen Verhältnisse sich dem logischen Verstand nicht erschließen: hier zieht die Ebene „Scherz, Satire, Ironie und „tiefere“ Bedeutung. Handlungsort ist ein Franchise Coffee Shop in einem amerikanischen Hotel mit roten Kunstledermöbeln und Plastik-Tischen. Der „Philosoph“ Gelasius ist zum Barkeeper mutiert, der mit seinen auf Hessisch vorgetragenen Platitüden und Lebensweisheiten ebenso zu gefallen weiß, wie stimmlich bei einigen Complets, die er zu singen hat. Viel Beifall für Schauspieler und Komiker Martin Rudolf („Maddin“) Schneider, der so die Beziehung zum mittelhessischen Gießen herstellt. (Auch Handkäs ist im Angebot.) Der Kaiser Isacius ist der lokale Gangsterboss in Stiefeln und mit Stetson; sein Adlatus Orontes wird als vom „Boss“ abhängiger Sheriff gezeigt. Richardus tritt zunächst als sein eigener Bote als Autogrammkarten verteilender Schlagersänger auf, dann aber ganz seriös als Löwenherz im eleganten dreiteiligen Zwirn und schließlich als Eroberer per Schiff (mitten in Arizona!) wie Francesco Schettino in weißer Paradefantasieuniform. Die beiden Damen Berengera und Formosa wetteifern in ihren Kostümen mit Blümchenmuster und Bonbonfarben.
Angelika Höckner zeichnet für die Ausstattung verantwortlich. Mit viel Liebe zum Detail hat sie die Bar und den Gastraum aufgebaut, durch dessen Fenster man auf Holzhäuser einen ländlichen Siedlung und auf an windschiefen Masten befestigte elektrische Leitungen schauen kann: alles ganz realistisch. Weniger realistisch, weil stark ironisierend sind die Videoproduktionen auf die großen Fensterscheiben. Als Reminiszenz an heroische mediterrane Landschaften blickt man auf das Bild eines mittelalterlichen Castello vor Gebirgslandschaft. Just durch dieses Bild kommt Richardus mit seinem Kreuzer auf die Bühne gefahren, bevor die Oper mit einigen Änderungen am Original ihr Ende findet. Vier Statisten beleben die bunte Szene, die fast immer in Bewegung ist; die knapp zweieinhalb Stunden reine Spielzeit der leicht gekürzten Oper werden nicht lang, sondern werden umso vergnüglicher, je länger das Geschehen anhält.
Maddin Schneider,Yannis François, Naroa Intxaust, Jakub Jósef Orliński
Bereitete schon die Inszenierung einen amüsanten Abend, so konnte mit man mit der musikalischen Seite des Abends ebenfalls sehr zufrieden sein. Musikalisch dominant bleibt Händel mit seinen Da-capo- und Gleichnisarien. Die haben mehr Schmelz und Swing als der trockenere Telemann. Michael Hofstetter leitete das Ensemble aus dem Philharmonischen Orchester Gießen, das teilweise auf Originalinstrumenten spielte und um eine fünfköpfige Continuogruppe erweitert war. Das Orchester folgte ihm präzise, auch wenn er überwiegend flotte Tempi anschlug. So erklang die Musik aus dem Graben temperamentvoll und inspiriert.
Tomáš Král
Es waren überwiegend Gastsänger eingesetzt, bei denen nichts anbrannte, wenn man sich auch hier und da bei den deutschen Rezitativen eine bessere Textverständlichkeit hätte wünschen können. Ein Glücksgriff war die Besetzung der beiden tiefen Männerstimmen. Yannis François als Isacius glänzte mit seinem hellen, jugendlichen überaus beweglichen Bassbariton und kraftvollen virtuosen Koloraturen. Wie auch Tomáš Král bewies er, dass man auch ohne zu viel Speck auf den Rippen gesanglich Zeichen setzen kann. Letzterer gestaltete den Richardus – von Telemann als Bariton besetzt – mit weich ansprechender eleganter wohltönender Stimme. Der Gießener Publikumsliebling Naroa Intxausti gab die Berengera, die sie innig und lyrisch mit gestochenen und feinen Höhen anlegte. Ihr Duett T’amo si“ mit Richardus geriet zu einem der lyrischen Höhepunkte des Abends. Francesca Lombardi Mazzulli kam zunächst mit ihrer Rolle als Formosa nicht so gut zu Recht. Sie hatte mit den Rezitativen zu kämpfen und neigte beim Forcieren zum Pressen. Vielleicht war das premierenbedingt, denn im Verlauf ließ sie ihren warmen, kraftvollen Sopran aufblühen. Der Sudanese Magid El-Bushra bekam als Orontes mehrfach Szenenbeifall für seinen hellen klaren Counter, für seine virtuosen Passagen und saubere Stimmführung. Ein weiterer Counter war mit Jakub Jósef Orliński in der kleinen Rolle des Philippus (Begleiter von Berengera) besetzt. Mit großem Tonumfang und sehr heller Höhe wusste er zu gefallen. Weniger dadurch, dass er sich zum Schluss ein Mädchenkleid anziehen musste; aber begeisternd eine artistische Leistung beim letzten Abgang.
Das Publikum war sehr zufrieden mit der Vorstellung und spendete einhelligen Beifall für alle Beteiligteninklusive des Regieteams. Puristen erden an der Inszenierung das eine oder andere auszusetzen haben, bei der Unterhaltung und Humor dominieren – vielleicht ganz im Sinne des Premierenpublikums in Hamburg von 1729. Noch am 10., 18., 26.04 und am 10. sowie 21.05.15.
Manfred Langer, 03.04.2015
Fotos:
Rolf K. Wegst