Rokoko-Reflexionen – Verabschiedung des Feudalzeitalters
Seit dem Jahr 2000 ist Strauss’ „Rosenkavalier“ am Staatstheater Kassel nicht mehr zu sehen gewesen. Die Inszenierung hatte damals Sebastian Baumgarten besorgt. In der aktuellen Neuproduktion des bereits 1911 uraufgeführten Werkes lag die Regie in den Händen von Lorenzo Fioroni, der zusammen mit Paul Zoller (Bühnenbild) und Sabine Blickenstorfer (Kostüme) eine ebenso eigenwillige wie auch kurzweilige Inszenierung zur Diskussion stellte. Mit leichter Hand setzte er die heiteren Momente in Szene, erwies sich aber auch als Meister in der Herausstellung tiefgehender Emotionen. Der Spagat zwischen betonter Sentimentalität und komisch-grotesken Szenen, die manchmal etwas überzeichnet wirkten, traf den Kern des Stückes voll und ganz.
Celina Byrne (Feldmarschallin), Maren Engelhardt (Octavian)
Einer der für die Oper von Strauss und Hofmannsthal ursprünglich ins Auge gefassten Titel war „Ochs auf Lerchenau“. Dieser Tatsache trägt Fioroni Rechnung, wenn er die Handlung aus der Perspektive von Ochs erzählt, wobei er Brecht’sche Elemente in seine Deutung einfließen lässt. Das Ganze erscheint bei ihm als Erinnerung des hier ganz und gar nicht grobschlächtig gezeichneten, jungen, sympathischen und als etwas heruntergekommener Ludwig XIV-Verschnitt erscheinenden Landedelmanns. Bereits während das Publikum seine Plätze einnimmt, sieht man die leere Bühne bis hin zu den Brandmauern. Beim Einsetzen der Musik schließt sich der Vorhang, dem hier die Funktion einer Brecht’schen Gardine zukommt. Durch eine auf der linken Seite befindlichen Tür ins Off betritt Ochs den Raum, begibt sich über eine seitliche, den Orchestergraben überspannende Brücke auf die Bühne und erweist dem Publikum höflich seine Reverenz. Immer stärker wird er von der Erinnerung übermannt. In heftigem Zorn auf seinen alten Widersacher Octavian zieht er den Säbel, um gleich darauf von unsichtbarer Hand hinter den Vorhang und damit mitten hinein in die Handlung gezogen zu werden.
Friedemann Röhlig (Baron Ochs)
Im Folgenden scheint sich das Geschehen in für Fioroni eigentlich eher untypischen konventionellen Bahnen zu bewegen. Diese Vorgehensweise entpuppt sich letztlich aber nur als Mittel zum Zweck. Nachhaltig praktiziert Fioroni das altbewährte Prinzip des Theaters auf dem Theater, um den Ausklang einer Epoche zu versinnbildlichen. Die Zeit des Rokoko erscheint nur mehr als Reflexion der Darsteller, die in Kostümen dieser Zeit den „Rosenkavalier“ zur Aufführung bringen und an deren Ende wieder ihre moderne Alltagskleidung anlegen. Der erste Aufzug entführt den Zuschauer in das herkömmliche Gemach der Feldmarschallin, dessen Ausstattung sicher auch in Produktionen vergangener Jahrzehnte trefflich gepasst hätte. Dem im Hintergrund platzierten Himmelbett entsteigt zu Beginn nach einer heftigen Liebesnacht mit völlig nacktem Busen die Marschallin, die noch während der ganzen Szene mit Ochs Unterwäsche trägt. Auch im dritten Aufzug erscheint sie in dieser. Offenbar ist sie auf die Schnelle gar nicht mehr dazu gekommen, sich anzukleiden. Wenn es um Emotionen geht, sind alle Menschen unabhängig von ihrer Kleidung gleich. Und in dieser Beziehung hat die Feldmarschallin hier ja bekanntermaßen das Nachsehen. Ihr stellt der Regisseur zwei Doubles, ein riesiges und eines von normaler Größe, zur Seite, die aufgrund ihrer eckigen, kantigen Bewegungen wie Automaten wirken. Hier wird von der Regie nachhaltig das Schreckgespenst des emotionslosen Maschinenmenschen der Zukunft beschworen. Der mit Zahnrädern ausgestatte, abenteuerlich anmutende Rollstuhl des farbigen Mohammed scheint direkt Fritz Langs berühmtem Film „Metropolis“ entsprungen zu sein. Durch diese futuristischen Elemente innerhalb des traditionellen äußeren Rahmens wird das unbarmherzige Verrinnen der Zeit nur zu sinnbildlich. Und genau darin besteht ja auch das Kernproblem der Marschallin, die vor dem Altern große Angst hat. Das gnadenlose Verfließen der Zeit wird zudem durch einige Uhren und die Lebenskrise der aus heutiger Sicht mit 33 Jahren noch recht jungen Adligen, die das Scheitern ihrer Liebe zu dem viel jüngeren Octavian voraussieht, durch das Herausreißen ihres Herzens verdeutlicht.
Marian Pop (Faninal), Friedemann Röhlig (Baron Ochs)
Einerseits weist Fioronis Interpretation mithin sehr werktreue Züge auf, andererseits bürstet er das Stück aber auch ganz schön gegen den Strich. Octavian ist bei ihm kein Mann, sondern eine junge Adlige, die zu Beginn eine auffällige Ähnlichkeit mit der Feldmarschallin aufweist. Die beiden Damen sind hinsichtlich ihrer sexuellen Bedürfnisse wohl Schwestern im Geiste. Irgendwann reißt sich Octavian den sowieso kaum sichtbaren Schnurrbart ab und ist nun ganz eine Frau, die in ihrem weißen Umhängelaken und auch später als po- und busenbetonte Wasserstoff-Blondine Mariandl äußerst sexy wirkt. Das war gut gemacht. Unklar blieb indes, warum sich Octavian während des gemeinsamen Frühstücks mit der Geliebten auf einmal die heiße Schokolade über dem Arm ausschüttet. Dieser deplatziert wirkende Einfall Fioronis ergab überhaupt keinen Sinn. Konnte man bei diesen Szenen durchaus noch an die Aufzeigung einer lesbischen Veranlagung mit entsprechenden Auswirkungen auf Octavians Verhältnis zu Sophie denken, so offenbarte sich alsbald beim Auftritt des Haushofmeisters und der Lakaien der Marschallin der wahre Ansatzpunkt des Regisseurs. Die Bediensteten waren allesamt als Frauen kostümiert, trugen breite Reifröcke und turmhohe Frisuren. Hier wurde klar, dass es Fioroni ganz allgemein um eine Umkehrung der herkömmlichen spezifischen Geschlechterverteilung ging, die er auf diese Art und Weise einfach köstlich auf die Schippe nahm. Fast schon etwas zu überspitzt und aufgedreht ging er dabei ans Werk, die Wirkung war aber enorm. Die Übertreibung erschien hier als legitimes Regie-Mittel.
Friedemann Röhlig (Baron Ochs), Maren Engelhardt (Octavian)
Relativ normal geht es im zweiten Akt zu, der in einer von zahlreichen Jagdtrophäen des reichlich karikativ vorgeführten Großwildjägers Faninal geschmückten Halle angesiedelt ist. Auch hier vermischen sich die Ären. Die zur Schau gestellten Gewehre sind der Entstehungszeit des Werkes zuzuordnen, während die Kostüme an das Zeitalter Maria Theresias angelehnt sind. Octavian erscheint hier wieder als Mann und Sophie trägt den barocken Krinolinen-Rock. In die Gefilde des modernen Musiktheaters dringt Fioroni hier insoweit vor, als er den jungen Grafen seinen ungehobelten Widersacher nicht mit dem Degen verletzen, sondern ihn mit der silbernen Rose in das Geschlecht stechen lässt. Im dritten Aufzug, in dem die Musik auch mal in Brecht’scher Manier aus dem Lautsprecher ertönt, erweist sich dann aber alles als Fassade. Die Theaterillusion der vorausgegangenen beiden Akte wird abgetragen. Der altbackene Rokoko-Mummenschanz erfährt eine Dekonstruktion und der Abend endet in der heutigen Zeit. Ochs stürzt nicht etwa von der Bühne, wie es im Libretto heißt, sondern verlässt sie langsam und immerhin noch als Standesperson durch eine Parketttür. Die Marschallin, Octavian und Sophie ziehen ihre altmodischen Kleider aus und legen modernen Jeans-Look an. Nach Schluss der Aufführung des Theaters auf dem Theater werden die Darsteller privat. Ein regelrechter Theatercoup, der aber gänzlich aus dem Stück heraus begründet ist, gelingt Fioroni am Ende, wenn er die Feldmarschallin schlagartig gealtert und am Stock abgehen lässt – ein sehr eindringliches Bild, das seine Wirkung nicht verfehlte. Ihre größte Angst ist Wirklichkeit geworden. Der Utopie einer zeitübergreifenden Liebe, auf die sie gesetzt hat, bleibt die Erfüllung versagt. Gebrochen und auf der ganzen Linie gescheitert verlässt sie zu den Schlussklängen den Raum, während eine Filmprojektion in den ersten Weltkrieg ziehende Soldaten zeigt. Auf der Bühne befindet sich nur noch ein schwarzer Sarg. Eine neue Ära ist angebrochen, das Feudalzeitalter wird zu Grabe getragen.
Sophie, Maren Engelhardt (Octavian), Celine Byrne (Feldmarschallin)
Einen hervorragenden Eindruck hinterließen Patrik Ringborg und das versiert aufspielende Staatsorchester Kassel. Trefflich gelang es Dirigent und Musiker, das Auditorium in einen mächtigen Klangrausch zu versetzen, der einerseits durch große Intensität und Spannung, andererseits aber auch durch kammermusikalische Klarheit und eine hervorragende Transparenz geprägt war.
Eine Glanzleistung erbrachte Celine Byrne als Feldmarschallin. Die larmoyanten, wehmütigen Züge ihrer Rolle hat sie mit Hilfe einer einfühlsamen, gefühlsbetonten Darstellung trefflich vermittelt. Gesanglich war sie mit ihrem bestens fokussierten, warmen und zur zarten Höhe hin fein aufblühenden Sopran, der überdies über viele Farben und eine ansprechende Pianokultur verfügt, ebenfalls sehr überzeugend. Aufgedreht, fetzig und in hohem Maße spielfreudig präsentierte sich Maren Engelhardt, die zudem mit ihrem in jeder Lage voll und ausdrucksintensiv klingenden Mezzosopran eine Idealbesetzung für den Octavian war. Im Schlussterzett bildeten der über eine solide tiefe Stütze und wunderbar schwebende Höhen verfügende Sopran von Eun Yee Yous Sophie mit den beiden anderen Stimmen einen feinen harmonischen Gesamtklang. Ganz und gar kein herkömmlicher Ochs auf Lerchenau war Friedemann Röhlig. Hier stand kein älterer, dicker und am Ende glatzköpfiger Polterer auf der Bühne, sondern ein gut aussehender, schlanker junger Mann, der nicht nur durch sein prägnantes Spiel, sondern in erster Linie auch mit seinem bestens fokussierten, schön auf Linie und textverständlich eingesetzten und bis zur der extremen Tiefe klangvollen Bass stark für sich einzunehmen wusste. Dass er bei der Stelle „zu nutz“ das von Strauss an dieser Stelle vorgeschriebene hohe gis nicht erreichte, fällt angesichts der beeindruckenden Gesamtleistung nicht ins Gewicht. Freude bereitete das Wiedersehen mit Marian Pop, der mit seinem italienisch geschulten, substanzreichen und höhensicheren Bariton einen guten Faninal sang.
Eigentlich über solides Stimmmaterial verfügend, tat sich Jaclyn Bermudez mit den Spitzentönen der Leitmetzerin schwer. Bei den hohen h’ s ging sie immer vom Körper weg, woraus ein ziemlich schriller Klang resultierte. Als Fehlbesetzung erwies sich Paulo Paolillo, der die Arie des eine ausgemachte Abziehfigur darstellenden italienischen Sängers so ganz und gar nicht auf italienische Manier, sondern vielmehr ziemlich flach und maskig sang. Das gilt auch für Seong Ho Kims Tierhändler und Wirt sowie den Haushofmeister der Feldmarschallin in Gestalt von Tobias Hächler, die beide nur recht dünnes Tenormaterial aufwiesen. Gesangssolisten, die den Valzacchi ordentlich im Körper singen, sind selten. Bassem Alkhouri ist einer von ihnen. Die Annina der voll und rund singenden Brenda Williams stand ihm in nichts nach. Eine Karikatur von Polizeikommissar, dessen sehr halsig klingender Bass zudem noch recht unfertig schien, stellte Abraham Singer dar. Ordentlich sang Hyunseung You den Haushofmeister bei Faninal. Als Notar hatte Dieter Hönig seine besten Zeiten hinter sich. in der Mini-Partie der Modistin war Ann-Christine Förste zu erleben. Die drei adeligen Waisen gaben Anna Sorokina, Sabine Roppel und Sabina Kuznetsova. Tadellos war der von Marco Zeiser- Celesti einstudierte Chor.
Fazit: Ein sehens- und hörenswerter Abend, dessen Besuch zu empfehlen ist.
Ludwig Steinbach, 10.11.2014
Die Bilder stammen von Nils Klinger.