Kassel: „The Turn of the Screw“

Nackte Geister

Sie stellt einen wahrlich erstklassigen Beitrag zum Britten-Jahr 2013 dar: Die bereits im vergangenen Juni aus der Taufe gehobene Neuproduktion von „The Turn of the Screw“, zu deutsch „Die Drehung der Schraube“, mit der das Staatstheater Kassel dem Komponisten, der heuer gegenüber den berühmteren Jubilaren Wagner und Verdi etwas ins Hintertreffen geriet, seine aufrichtige Reverenz erweist. Jetzt erlebte diese rundum gelungene Produktion ihre erfolgreiche Wiederaufnahme.

Brittens 1954 im Teatro la Fenice, Venedig uraufgeführte Oper beruht auf der gleichnamigen, 1898 erstmals veröffentlichten Geistergeschichte von Henry James. Es geht um die Erlebnisse einer jungen Gouvernante auf dem englischen Landsitz Bly. Einzig unterstützt durch die alte Haushälterin Mrs. Grose soll sie sich dort um die beiden Waisenkinder Miles und Flora kümmern. Den Auftrag dazu hat ihr der Onkel und Vormund der beiden Kinder erteilt, in den sie sich verliebt hat. Bedingung für ihre Anstellung ist, dass sie ihn unter keinen Umständen kontaktiert und alle auftretenden Probleme allein bewältigt. Und solche gibt es genug. Denn die Geister der ehemaligen Gouvernante Miss Jessel und des alten Dieners Quint machen ihr das Leben ganz schön schwer. Mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln versuchen sie, sich der Kinder zu bemächtigen, was die Gouvernante vehement zu verhindern trachtet. Letzten Endes kann sie aber die Katastrophe doch nicht verhindern.

Brittens Musik mutet recht kammermusikalisch an. Im Graben sitzen lediglich dreizehn Spieler, woraus ein zeitweilig recht intimer Charakter resultiert. So z. B. gleich zu Beginn, als die Worte des Prologs nur von einem Klavier untermauert werden und der Focus demzufolge noch auf dem narrativen Element liegt. Nichtsdestotrotz drängt sich im Folgenden von Zeit zu Zeit bei dramatischen Ausbrüchen auch der Eindruck eines riesigen Orchesters auf. Herrliche Traumbilder wechseln mit ätherischen Stimmungen ab. Das sind aber nur zwei Aspekte von Brittens interessanter und abwechslungsreicher Partitur. Er hat seine Oper symmetrisch in zwei Teile aufgespalten, die aus jeweils acht Bildern bestehen. Letztere wiederum sind durch fünfzehn Variationen voneinander abgetrennt. Obwohl das Hauptthema aus zwölf Tönen besteht, haben wir es hier nicht mit Zwölftonmusik zu tun. Britten setzt vielmehr auf Tonalität. Das Schraubenmotiv erfährt bei ihm eine klare Gliederung. Es ist aus sechs aufsteigenden Quartensprüngen aufgebaut, die durch absteigende Terzen miteinander verbunden sind. Diese Quarten winden sich über sämtliche zwölf Töne immer höher, so dass auch musikalisch der Eindruck einer sich drehenden Schraube entsteht. Diese pendelt ständig zwischen den Tonarten der Gouvernante (A-Dur) und Quints (As-Dur) hin und her. Diese Spiralbewegung der Musik erzeugt eine enorme Spannung und zieht sich unter oft asynchronen Rhythmen durch das ganze Werk. Schon zu Anfang lässt Britten damit rein musikalisch die Gouvernante und Quint gegeneinander antreten.

Dieses Aneinanderreiben zweier Tonarten hat eine ausgesprochen bitonale Struktur zur Folge, die zu den Hauptcharakteristiken der Oper gehört. Miss Jessel bewegt sich gerne zwischen den Paralleltonarten f-Moll und As-Dur, was insbesondere im ihrem Duett mit der Gouvernante im zweiten Akt der Fall ist, die hier ebenfalls durch f-Moll gekennzeichnet ist. Die musikalischen Charakterisierungen sind Britten vorzüglich gelungen. Der Anfang wirkt noch unbeschwert, die Gouvernante tritt zwischen C-Dur und D-Dur wandelnd in Bly ein. Aber schon wenig später kommt es beim Eintreffen des Briefes aus Miles’ Schule mit dem Einsetzen von a-Moll erstmals zu einer musikalischen Trübung. Im zweiten Akt steht die düstere und das tragische Ende vorausnehmende Nachttonart es-Moll öfters im Vordergrund. Am Ende schließt sich der Kreis. Bei Miles’ Tod ist Britten wieder bei der Ausgangstonart A-Dur angelangt. Des Weiteren springt ins Auge, dass die vom Komponisten gewählten Tonarten im ersten Akt durchweg aus den Tönen der weißen Klaviertasten gebildet werden, im zweiten Aufzug dagegen von den schwarzen Tasten bestimmt werden. Von A-Dur und As-Dur ausgehend schrauben sich die Tonarten immer weiter nach unten, wobei sie ständig b-Moll, die Tonart des Bösen, anstreben. Mit Blick auf die Tatsache, dass die beiden Geister, die sich hier im Gegensatz zu James’ Novelle auch artikulieren können und viel zu singen haben, immer stärker die Oberhand gewinnen, ist diese Vorgehensweise des Komponisten durchaus nachvollziehbar. Der Kampf zweier gegensätzlicher Welten wird offenkundig. Gut und Böse, Hell und Dunkel bekriegen sich. Klangfarblich zieht Britten die Grenze zwischen den beiden Bereichen mit Hilfe der Quint zugeordneten Celesta, die trefflich das magisch Lockende dieser Figur versinnbildlicht. Hier fühlt man sich etwas an die Klangdramaturgie von Mahlers Sechster Symphonie erinnert. Insgesamt hat Britten eine schwermütige Musik geschrieben, die den tristen Inhalt der Handlung aufs Beste unterstreicht. Alexander Hannemann bewies ein vorzügliches Gespür für Brittens Tonsprache, die er zusammen mit dem gut disponierten Staatsorchester Kassel in all ihrer Suggestivität sehr eindringlich und mit hohem emotionalem Gehalt vor den Ohren des Publikums ausbreitete.

Das Stück hat im Lauf der Zeit vielerlei Interpretationen erfahren. Bis heute ist nicht so recht klar geworden, ob es sich bei dem Ganzen nun um eine Geistergeschichte, um eine Halluzination der Gouvernante oder um ein Stück über Kindesmissbrauch handelt. Alles ist möglich. Paul Esterhazy hat für seine gelungene Inszenierung den psychologischen Zugang gewählt und erzählt die Geschichte in Form einer Rückblende als Wahn der Gouvernante, die bereits zu Beginn den toten Miles im Arm hat. In engem Bezug zu der Handlung steht Sigmund Freuds Bericht von Miss Lucy R, einer seiner Patientinnen, die sich unbewusst in den Vater der von ihr gehüteten Kinder einer entfernten Verwandten verliebt hat und nicht weiß, wie sie mit dieser Situation umgehen soll. Dieser Essay des genialen Psychoanalytikers dient Esterhazy als Ausgangspunkt für seine Deutung. Bei ihm erscheint Freud persönlich auf der Bühne. Er singt den Prolog und beobachtet und analysiert im Folgenden das sich in Pia Janssens – von ihr stammen auch die gelungenen, altmodischen Kostüme – engem Bühnenraum, durch dessen Fenster man auf eine idyllische Landschaft mit einem naturalistisch anmutenden See hinausblickt, mit großer Stringenz ablaufende Geschehen. Da der Sänger des Prologs ja auch den Quint singen muss, hat der Regisseur den Psychiater im weiteren Verlauf der Handlung durch ein Double ersetzt. Um das Gespaltene in der Wahrnehmung der hier verrückten, mit manchmal etwas zwanghaften Bewegungen versehenen Gouvernante zu verstärken, hat er auch den übrigen Personen Doppelgänger an die Seite gestellt, wie es jüngst auch Frank Hilbrich in Mannheim bei derselben Oper – wir berichteten – gemacht hat.

Durch diesen genialen Schachzug seitens der Regie verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion miteinander. In dem stark beengten äußeren Raum, der von Umbaustatisten von Bild zu Bild ständig etwas variiert wird, entsteht eine geistige Zwischenwelt, in der sich nicht zuletzt durch Esterhazys ausgefeilte, dicht gedrängte Personenregie eine Atmosphäre von beklemmender Wirkung ausbreitet. Einfühlsam nimmt der Regisseur den Zuschauer bei der Hand und unternimmt mit ihm eine Reise durch die Psyche der Gouvernante, die zunehmend verstörter wird und Dinge sieht, die den anderen Personen verborgen bleiben, so die beiden fast stets präsenten Geister. Miss Jessel und Quint sind die ganze Zeit über splitternackt, was indes von Esterhazy in keinerlei Hinsicht als Provokation gemeint ist, sondern in geschickter Weiterführung seines Ansatzpunktes sogar ausgesprochen konsequent, logisch und äußerst stimmig erscheint. Inmitten der altmodischen, streng viktorianischen Kostüme der anderen Handlungsträger ist es gerade diese totale Nacktheit, die den beiden imaginären Astralwesen eine besondere Unheimlichkeit und regelrechte Dämonie verleiht und deshalb dramaturgisch großen Sinn macht. Selten hat man eine Inszenierung gesehen, in der die Nacktheit auf der Bühne so schlüssig und gut begründet war.

Der äußeren Nacktheit von Miss Jessel entspricht eine innere Entblößung der Gouvernante, wenn der Spiegel ihr einmal nicht ihr eigenes Gesicht, sondern das ihrer toten Vorgängerin zeigt, mit der sie ein intensives Zwiegespräch führt – ein ungemein starkes Bild, das genauso unter die Haut geht wie das vorangegangene, in der sich die Beteiligten an der Gruft von Miss Jessel und Quint ein Stelldichein geben. Insbesondere die diabolischen Züge des ehemaligen Dieners werden durch seine Identifikation mit dem Teufelsgeiger Paganini noch intensiviert. Zu diesem Zweck gibt der Regisseur ihm zwar keine Geige, aber immerhin ein Cello in die Hand. Und wenn er während des traurigen, Unheil verheißenden „Malo“-Gesangs des kleinen Miles dasselbe Wort mit Kreide an die Schultafel schreibt, kann an dem tragischen Ausgang kein Zweifel mehr bestehen. Durch derartig imposante visuelle Impressionen wird der triste Charakter, dem Esterhazy und sein Team dem Ganzen zugrunde legen, nur noch verstärkt. Letztlich kann aber sogar Freud nicht mehr helfen. Seine Versuche, die Gouvernante von ihrer psychologischen Störung zu heilen, sind schon deshalb zum Scheitern verurteilt, weil sich das innere Wesen der Gouvernante jeglicher tiefschürfenden Psychoanalyse entzieht. Das alles wurde von Esterhazy mit großer Stringenz und spannend umgesetzt.

In der Umsetzung seines Konzeptes fand er in den aufgebotenen Sängern und Statisten hervorragende Partner. Sie alle liefen rein darstellerisch zur Höchstform auf. Hier ist an erster Stelle die famose Runette Botha zu nennen, die voll in der Rolle der von ihr sehr intensiv und impulsiv sowie mit hoher emotionaler Ausdruckskraft gespielten Gouvernante aufging. Auch gesanglich vermochte sie mit ihrem gut focussierten, tiefgründigen und höhensicheren Sopran voll zu überzeugen. Treffliche Unterstützung fand sie im Gouvernanten-Alter-Ego Franziska Schwedes . Maren Engelhardt legte die Miss Jessel mit trefflich gestütztem, sonorem Sopran rech dramatisch an. Gideon Poppe als Quint und Prolog klang dagegen ziemlich dünnstimmig. Während die beiden Sänger konzeptgemäß aus dem Off heraus sangen, agierten die stummen Nackedeis Astrid Weigel und Till-Ulrich Herber eindrucksvoll auf der Bühne. Als Freud-Double bewährte sich Pablo Schelter. Mit insbesondere in der Höhe etwas variablem Stimmsitz sang Lona Culmer-Schellbach die Mrs. Grose, die Doppelgängerin der Haushälterin war Melitta Schäffer. In jeder Hinsicht erfreulich waren auch die Leistungen der beiden Kinder Sophie Geismann und Matthias Gude in den Rollen der Geschwister Flora und Miles.

Fazit: Ein spannungsgeladener, gut durchdachter Opernabend, der dem Staatstheater Kassel zu großer Ehre gereicht und dessen Besuch sehr zu empfehlen ist.

Ludwig Steinbach, 14. 10. 2013
Die Bilder stammen von Nils Klinger.