Mainz: „Die Meistersinger von Nürnberg“

Besuchte Aufführung: 31.5.2015

Harmlos und unausgegoren

Sie waren eine der bemerkenswertesten Erscheinungen des Mittelalters: Die Meistersinger, deren bedeutendster Vertreter Hans Sachs war, knüpften mit ihrer Kunst an die traditionelle Form des Minnegesangs an und traten damit in die Fußstapfen beispielsweise eines Walther von der Vogelweide oder Wolfram von Eschenbach, um nur die berühmtesten zu nennen. Wo genau sie ihren Anfang nahmen, konnte bisher nicht eindeutig geklärt werden. Wahrscheinlich in Mainz, in dessen Vorort Biebrich, der heute zu Wiesbaden gehört, Wagner in einer Villa am Rhein das Vorspiel seiner ursprünglich als Satyrspiel zum „Tannhäuer“ konzipierten „Meistersinger“ komponierte. Dass er sich nach eigenem Bekunden dabei von der Silhouette des goldenen Mainz inspirieren ließ, gehört in das Reich der Legenden. Von Wagners Domizil aus ist Mainz – zumindest heute – gar nicht zu sehen. Und das dürfte damals nicht anders gewesen sein.

A. Spemann (Stolzing), Vida Mikneviciute (Eva), Linda Sommerhage (Magdalene)

Der enge Bezug, den Wagners „Meistersinger“ zu Mainz haben, veranlasste Intendant Markus Müller nun, das Werk auf den Spielplan zu setzen. Der Erfolg mag ihm Recht gegeben haben. Wagner zieht ja immer und der Schlussapplaus des Publikums geriet dann auch sehr herzlich. Andererseits reichte die Inszenierung von Ronny Jakubaschk über reines Mittelmaß nicht hinaus und vermochte gehobenen Ansprüchen nicht zu genügen. Allzu brav und bieder geriet seine Regiearbeit, die keinerlei Bezug zu aktuellen Problemen aufwies und in mancherlei Hinsicht in Ansätzen stecken geblieben ist. Lediglich dekorativen Charakter hatte bereits der vorwiegend grüne äußere Rahmen, in den Ausstatter Matthias Koch das Ganze gesteckt hatte. Sowohl beim Bühnenbild als auch bei den Kostümen der Meister dominierte diese Farbe. Der rothaarige Stolzing hingegen wurde in ein violettes Licht gehüllt, Dass Eva den Ritter von ganzem Herzen liebte, wurde dadurch versinnbildlicht, dass sie im dritten Aufzug ihre vordem nicht gerade ansehnlichen grünen Haare ebenfalls rot gefärbt hatte.

Derrick Ballard (Sachs), Heikki Kilpeläinen (Beckmesser)

Ihr Einfall, sich im ersten Aufzug als Mann verkleidet, mit schwarzem Hut, riesigem grünem Schal und Sonnenbrille unter die Meistersinger zu mischen, um die genauen Pläne ihres Vaters, von denen sie hier augenscheinlich noch nicht in allen Einzelheiten Kenntnis hat, auszuspionieren, war zwar amüsant, wurde aber nicht konsequent durchgezogen, verebbte und blieb letztlich eine für das Gesamtgefüge der Handlung unwesentliche Episode. Schade. Aus dieser an sich trefflichen Idee hätte Jakubaschk viel mehr machen können. Obendrein war es nicht sehr logisch, dass die Meister eine ihnen ganz unbekannte vermummte Person so gänzlich kommentarlos in ihrer Mitte duldeten. Aber nicht nur das wirkte unausgegoren.

Michael Pegher (David), Linda Sommerhage (Magdalene), Derrick Ballard (Sachs), Vida Mikneviciute (Eva), Alexander Spemann (Stolzing)

Das Ganze spielt in einer fast leeren Fabrikhalle, deren Hintergrund von einem riesigen, in einer Art Turm befindlichen Räderwerk mit vielfältigen Leuchtröhren dominiert ist, der im ersten Aufzug an die Stelle des Gemerks – auf eine Tafel verzichtet die Regie – tritt und im zweiten als Haus Pogners dient. Das kann einmal als Verweis auf die Entstehungszeit der „Meistersinger“ verstanden werden, in der die Industrialisierung riesige Fortschritte machte. Andererseits steht es für eine moderne Maschinenwelt, in der man leicht mal zwischen die Räder geraten kann. Diese nehmen während der Festwiesenszene auch mal die Form von Hypnosescheiben an. Leider werden die Möglichkeiten, die sich aus dieser trefflichen Symbolik eröffnen, vom Regisseur nicht weiter genutzt. Dass die Meistersinger in einer technisierten, einen Kunstraum darstellenden Welt ihre Kunstreligion pflegen, wird zwar deutlich, Konsequenzen, die den Abend womöglich etwas spannender hätten werden lassen, werden daraus aber nicht abgeleitet.

Ensemble

Dass die Inszenierung insgesamt nicht gerade aufregend ausfiel, lag in erster Linie an der reichlich unspektakulären Herangehensweise Jakubaschks an das Werk. Ein Gewinn für die Rezeptionsgeschichte ist seine doch recht harmlos anmutende, biedere Inszenierung wahrlich nicht. Tiefergreifende Gedanken hat er sich über die Handlung nicht gemacht und sich darauf beschränkt, diese ohne Schnörkel und recht geradlinig nachzuerzählen, wobei die Personenregie mal mehr, mal weniger ausgeprägt war. Leider gab es gerade im zweiten Aufzug einige szenische Längen. Die als Kissenschlacht gestaltete Prügelfuge, in deren Verlauf sich der von David stark misshandelte Schönling Beckmesser in den Räderwerk-Turm flüchtet, in dem zuvor Magdalene seinem Ständchen lauschte, fiel dagegen wieder ausgesprochen munter und lebendig aus. Entbehrlich war die Szene, in der der Baum der Erkenntnis in einem sanften Blütenregen vom Schnürboden auf die Festwiese herabschwebte. Hier wurde die Grenze zum Kitsch in bedenklicher Weise gestreift. Völlig unkommentiert seitens der Regie blieb Sachs’ berüchtigte Schlussansprache, deren hoher politischer Gehalt eine Interpretation unbedingt erfordert hätte. Hier lief sie ins Leere. Kein Wunder, dass Stolzing ihren Sinn dann augenscheinlich auch nicht erfasst hat. Wenigstens hat er am Ende den vom Regisseur ernst genommenen Beckmesser wieder zurückgeholt und ihm versöhnlich die Hand gereicht. Insgesamt blieben bei der Inszenierung einige Wünsche offen. Für jemanden, der die Oper kennenlernen will, war sie vielleicht gut geeignet. Spannendes Musiktheater mit hohem geistig-innovativem Anspruch, wie man es sich gewünscht hätte, stellte sie jedenfalls ganz und gar nicht dar.

Ensemble

Insgesamt zufrieden sein konnte man mit den gesanglichen Leistungen. Es spricht für die Qualitäten des Staatstheaters Mainz, dass es sämtliche Hauptpartien aus dem eigenen Ensemble besetzen konnte und nur für die zahlreichen Nebenrollen auf Gäste zurückgriff. Derrick Ballard war ein stimmlich sehr verlässlicher, stets aus dem Vollen schöpfender Sachs, der seinen extrem langen Part nicht nur ohne Ermüdungserscheinungen durchhielt, sondern auch noch bravourös gestaltete. Er gewann seinem gut fokussierten, sonoren Heldenbariton zahlreiche Nuancen ab und wartete auch mit einer ansprechenden Farbenscala auf. Die Dramatik des Schusterliedes und der Schlussansprache stand ihm in gleichem Maße zur Verfügung wie die poetisch-eleganten Facetten des Flieder- und des Wahnmonologs. Neben ihm war Heikki Kilpeläinen ein junger, gut aussehender und intensiv spielender Beckmesser mit lyrisch kultiviertem, bestens verankertem Baritonschmelz und schönem hohen a, der rein stimmlich dem Stolzing von Alexander Spemann, der mit den Höhen seiner Rolle nicht immer zurechtkam und manchmal ziemlich gepresst hat, um einiges überlegen war. Er präsentierte sich als ernstzunehmende Konkurrenz um Evchens Hand, der die wunderbare Vida Mikneviciute mit ungemein kräftigem und vollem, dabei in jeder Lage bestens gestütztem und glanzvollem Sopran einen regelrecht hochdramatischen Anstrich verlieh. Von dieser phänomenalen Sängerin, die zu den ersten Kräften des Mainzer Theaters gehört, kann man sicher noch viel erwarten. Eine voll und rund, dabei sehr tiefgründig singende Magdalene war Linda Sommerhage. Einen darstellerisch würdevollen, eleganten Pogner mit profundem Bassklang gab Ks. Hans-Otto Weiß. Solides Bass-Bariton-Material brachte Peter Felix Bauer für den Kothner und den Nachtwächter mit. Nicht zu überzeugen vermochte der ausgesprochen flach und halsig singende David von Michael Pegher. Auch Max Friedrich Schäffers Vogelgesang verfügte nur über dünnes Tenor-Material. Den Stimmführer der kleinen Meister hätte besser Karsten Münster vom Landestheater Coburg geben sollen, der den Eisslinger sehr kraftvoll und mit solider tiefer Stütze sang. Solide schnitten Johannes Held (Nachtigal), Christopher Kaplan (Zorn), Scott Ingham (Moser), Manos Kia (Ortel), Stephan Bootz (Foltz) und Georg Lickleder (Schwarz) ab. Auf hohem Niveau bewegte sich der von Sebastian Hernandez-Laverny einstudierte Chor.

Derrick Ballard (Sachs), Heikki Kilpeläinen (Beckmesser)

GMD Hermann Bäumer am Pult ging das Werk sehr ausgelassen und rasant an. Die von ihm angeschlagenen Tempi waren teilweise sehr zügiger Natur, was dem heiteren, frischen Charakter von Wagners herrlicher Musik indes zugute kam. Lediglich bei der Prügelszene wäre ein etwas gemäßigteres Tempo vielleicht nicht schlecht gewesen. Das Philharmonische Staatsorchester Mainz setzte seine Intentionen differenziert und klangschön um.

Fazit: Eine Aufführung, die von der Inszenierung her entbehrlich anmutete, musikalisch und gesanglich aber durchaus für sich einzunehmen vermochte.

Ludwig Steinbach, 1.6.2015

Die Bilder stammen von Martina Pipprich