Mainz: „Simplicius Simplicissimus“, Karl Amadeus Hartmann

Premiere im Kleinen Haus am 18.10.2014

Historienstück – zwischen den Nachbeben des ersten Weltkriegs und der Vorahnung auf neues Schlachten entstanden und zeitlos zu verstehen

Der Komponist Karl Amadeus Hartmann ließ sich von den Nazis nicht gleichschalten. Er war Mitglied der Künstlervereinigung „Die Juryfreien“, die 1934 zwangsaufgelöst wurde, konnte aber Mitglied der Reichsmusikkammer werden, obwohl seine Werke in Deutschland nicht aufgeführt wurden. So schrieb er in einer Art innerer Emigration für die Schublade. Auch seine in den Jahren 1934 und 1935 entstandene Oper „Des Simplicius Simplicissimus Jugend – drei Szenen aus seiner Jugend“ gelangte erst nach dem Krieg zunächst konzertant, dann szenisch (Köln 1949) zur Uraufführung. Zu dem Werk hatte ihn sein Mentor Hermann Scherchen angeregt, der gleich zu Beginn des Nazi-Regimes in die Schweiz emigriert war. Scherchen hat auch wesentlichen Anteil am Libretto der Oper, das er zusammen mit Hartmann und Wolfgang Petzet erstellte. Dieses thematisiert drei Szenen aus dem ersten von fünf Büchern Grimmelshausens Antikriegsroman „Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch“, also aus der Jugend des Simplicissimus. Es handelt sich um eine eminent politische Oper mit vielen Anspielungen an die Nazizeit, die auch nach nunmehr achtzig Jahren noch unmittelbar verstanden werden können.

Marie-Christine Haase (Simplicius Simplicissimus)

Ein Bauer übergibt dem Buben eine Pfeife, damit er beim Hüten der Schafen den „Wolf“ verscheuchen kann. Ein marodierende Landsknecht erscheint und wird vom Buben Simplicius als „Herr Wolf“ (immerhin nicht „Onkel Wolf“) angesprochen. Der möchte gern etwas über die Identität des Knaben erfahren. Ein autobiographisches Element der Oper, da Hartmann zu eben der gleichen Zeit versuchte, sich der Frage nach seinem Arier-Nachweis zu entziehen. Oder die Feststellung des naiven Simpel an den Gouverneur von Hanau: „Mein lieber Hermaphrodit, wie bist Du prächtig angetan“ kann man ohne weiteres auf das Spottlied frei nach Claire Waldoff beziehen: „Rechts Lametta, links Lametta,/Und der Bauch wird imma fetta,/Und in Preußen ist er Meester -/Hermann heeßt er!“ Oder das „falsch verstandene“ Gebet der zehn Gebote durch den Simpel: „Und erlöse uns vom Reich“.

Das Stück ist keine Oper im damals überkommenen Sinne, sondern es stellt drei nicht durch einen Handlungsstrang verbundene Szenen dar, in denen zu einem erweiterten Kammermusik-Ensemble gesprochen, deklamiert und gesungen wird; Musiktheater, das sich entstehungszeitlich im Kontext mit Schönbergs „Moses und Aron“, Bergs „Lulu“ oder als Antikriegsstück auch thematisch, aber nicht musikalisch mit Strauss‘ „Friedenstag“ in Kontext setzen lässt. Simplicius Simplicissimus ist ein Stück, das vordergründig natürlich im dreißigjährigen Krieg angesiedelt ist, das aber den Intentionen der Autoren zufolge in deren Gegenwart der Werkentstehung spielt und mit Bezug auf die Grausamkeiten des Kriegs leider bis in die Zukunft mit ihren Geschehnissen von Terroristen-Gemetzeln bis zu „Kollateralschäden“ durch kriegführende Großmächte wirkt und „das furchtbarste aller Verbrechen, den Krieg“ (Hartmann) aus der Perspektive der Opfer beschreibt. Helden gibt es nicht. Hartmann hat nach dem Krieg eine zweite Version der Oper mit größerer musikalischer Durchgängigkeit erstellt. Das Staatstheater aber folgt in seiner „Mainzer Fassung“ weitestgehend der Urfassung, die hier und da unnötigerweise verbal noch weiter aufgeladen ist.

Alexander Maczewski (Trommler und Sprecher); Chor

Für die drei an verschiedenen Spielorten ablaufenden Bilder hat Annika Haller mit einfachen Mitteln die Szenographie erstellt. Vor einer bühnengroßen Wand aus großen Transportkartons spielt die erste Szene, in welcher der „Knän“ den Simpel vor dem Wolf warnt und ihm die Sackpfeife übergibt. Die Verwüstung des Hofs, das Erschlagen des „Knäns“ wird durch das Demolieren dieser Kartonwand dargestellt, hinter der sich ein Raum öffnet, der im großen Viereck von drei weiteren Kartonwänden umbaut ist. Aus den heruntergestürzten Kartons packt die Soldateska moderne automatische Waffen aus. Wozu sie die brauchen? Auf den Kartons der umstehenden Wände sind in dicken Chiffren die Jahreszahlen der Kriege bis in die jüngste Vergangenheit aufgedruckt. Dazu braucht man immer wieder Waffen. Es erschließt sich dem historisch Interessierten aber nicht, warum dabei die Kriege zwischen dem Dreißigjährigen und dem Einigungskrieg 1870/1871 ausgelassen sind, die in ihrer Summe (Erbfolgekriege, Napoleonische Kriege, Befreiungskrieg) nicht weniger verheerend waren als die großen Weltbrände. In der so „ummauerten“ zerstörten Landschaft wohnt der Einsiedel, der hier ein desertierter Soldat ist, an posttraumatischen Belastungsstörungen leidet und sich am Ende die Kugel gibt.

Hans-Otto Weiß (Bauer); Marie-Christine Haase (Simplicius); Chor

Während des Umbaus zur dritten Szene wird vor dem Vorhang weitergespielt. Dann öffnet sich der Saal zur dritten Szene: die „Halle“ des Gouverneurs zu Hanau ist wieder von Wänden hochgestapelter Kartons umgeben. Es wird klar, womit der seinen Lebensunterhalt verdient: mit Waffenhandel, denn die Kartons sind mit Kalaschnikow-Drucken versehen. (Man erinnert sich an Olivier Tambosis Mannheimer Rosenkavalier-Inszenierung von 2004, in welcher das Stadtpalais des „Edlen“ von Faninal von oben bis unten mit dessen Handelsware dekoriert ist: hübschen Kanonenrohren.) Und wie der schöne Pelzmantel des Gouverneurs zeigt, muss auch dieser keine Not leiden. Ein dramaturgisch eher deplatzierter Einfall der Regisseurin Elisabeth Stöppler, der jeder Logik entbehrt und mit dem sie sich weiterer Möglichkeiten der Personenführung begibt, besteht darin, in der dritten Szene die Figur der „Dame“ mit der des Simplicissimus zusammenzulegen, indem sie diesem ein aufgeblasenes Gummikostüm mit den überdrallen Formen einer teilentblößten Frau überziehen lässt. Die „Dame“ muss ihre entwürdigenden Tänze aufführen und sich das Couplet „Hei, lüderlich sind alle Weiber" anhören, ehe sich aus ihr der Simplicius herausschält und zum Hofnarren des Gobernators promoviert wird.

Am Ende der Oper präsentiert Hartmann seine aus der Vorhistorie gewonnene Vision. Die Odenwälder Bauern mit dem Lied „Als Adam grub und Eva spann, wo war da der Edelmann?“ machen alles nieder. Mit diesem Lied forderte der Priester John Ball im 14. Jhdt. in England die Aufhebung der Standesgrenzen; es wurde in den deutschen Bauernkriegen des 15. und 16. Jhdts aufgenommen und fand Eingang ins Liedgut der bündischen Jugend: („Wir sind des Geyers schwarze Haufen“) und zwar sowohl der rechts- als auch der linksgerichteten, es war Liedgut der SS und wurde (das konnte Hartmann noch nicht wissen) auch von der NVA in der DDR gesungen. Die Vision einer solchen „freien“ Gesellschaft hatte Bertold Brecht allerdings schon 1928 kommentiert: „Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.“ Hartmann, auf der Suche nach künstlerischer Entfaltung in einem nicht-repressiven, nicht-restaurativen Umfeld ging nach der Teilung gar auf die Abwerbeversuche der DDR-Kulturpolitik ein. Allerdings roch er den Braten und blieb im goldenen Westen.

oben: Heikki Kilpeläinen (Landsknecht), Hans-Otto Weiß (Bauer); unten: Chor

Mit diesem beziehungsreichen Ende schließt sich der Kreis dieser 90-minütigen Oper, die teilweise Kammerspiel-Charakter hat und daher vom Staatstheater im kleinen Haus aufgeführt wurde. Die Regisseurin Elisabeth Stöppler hat das Geschehen in eine zeitlose Gegenwart verlegt. Neben Annika Hallers Kartonwelt zeugen davon vor allem die Kostüme von Frank Lichtenberg, der uns Personen in Kleidungen zeigt, wie sie uns täglich im Baumarkt, aber auch auf Demos der Blockupy begegnen können: ohne jeglichen Charme. Die Regie hält die Figuren in steter Bewegung, geht (bis auf die verfehlte Tänzerin) in eher zurückhaltendem Realismus auf die Leute und ihr Umfeld ein und legt eine im Ganzen stringente und überzeugende Regiearbeit vor, die zusammen mit Musik und Sprache zu einem nachhaltigen Ganzen zusammenfindet.

Alexander Spemann (Einsiedel); Marie-Christine Haase (Simplicius)

Von Hartmann ist diese Oper, die zwar selten aber regelmäßig aufgeführt wird und in etlichen Tonträger-Aufnahmen zu haben ist, wohl das bekannteste Werk. In seiner Musik verarbeitet er – wieder politisch beziehungsreich – verschiedene stilistische oder auch direkte Zitate und gerade solche von Komponisten, die bei den Nazis verfemt waren. Ohne dass man Hartmann des Eklektizismus zeihen könnte, hört man: Schönberg, Strawinsky, Prokofjew und gar den jüdischen Volksgesang zum Passah-Fest („Elijahu Hanavi“). Dazu kommt fast leitmotivartig das deutsche Renaissance-Lied „Innsbruck, ich muss Dich lassen“ (Heinrich Isaac) in der Bachschen Vertonung, die als „Nun ruhen alle Wälder“ Eingang in die evangelischen Gesangsbücher gefunden hat. Im Orchestergraben ist jedes Instrument des klassischen Orchesters vertreten, aber jeweils nur einmal. Hermann Bäumer leitete dieses 13-köpfige Ensemble des Philharmonischen Staatsorchesters, das naturgemäß sehr transparent aufspielt und sowohl auch bei den vielen Soli als auch bei den symphonisch wirkenden Tutti die Qualität der Musiker unter Beweis stellt. Der Schlagzeuger Alexander Mazcewski – das war eine gute Idee – übernahm mit verschiedenen Instrumenten (große, kleine, Landsknechtstrommel) ausgerüstet die Rolle des Sprechers auf der Bühne. Dass seine Aussprache nicht so perfekt war wie sein Spiel, konnte man ihm leicht nachsehen. Nicht zum Charakter eines Kammerspiels passte der große Chor, dessen Herren durch den Extrachor verstärkt waren. Ein Teil sang grundierend ohne Text hinter den Kulissen, der andere Teil, das teilnehmende Volk, in verschiedenen Konstellationen auf der Bühne, vor dem Vorhang oder im Saal. Da klappte es mit den Einsätzen noch nicht ganz präzise; und bezüglich der Sprachverständlichkeit fehlte auch ein Quäntchen Genauigkeit. (Einstudierung: Sebastian Hernandez-Laverny). So hätte man selbst bei den gesprochenen Passagen die Übertitelung weiter laufen lassen sollen.

Jürgen Rust (Gouverneur)

Die Passagen für die Solisten sind in einer Folge von Sprache, (teils psalmodierende) Deklamation, Bänkelgesang und Gesang gesetzt, was die Sänger vor vielfältige Aufgaben stellte, mit denen sie – sämtlich aus dem Ensemble des Staatstheaters besetzt, das den Intendantenwechsel größtenteils vor Ort überleben durfte – durchweg gut zurecht kamen. Die lyrische Koloratursopranistin Marie-Christine Haase, seit Beginn der Spielzeit 2014/15 festes Ensemblemitglied des Staatstheaters Mainz, hatte die Titelrolle schon an alter Wirkungsstätte in Osnabrück gesungen; manchmal etwas spitz im Recitar, dafür mit glühend warmen leuchtenden Höhen. Hans-Otto Weiß gab seinen kurzen Auftritt im ersten Bild mit sonorem Bass, den er auch in den gesprochenen Passagen sehr gut und klar zur Geltung brachte. Heikki Kilpeläinen brachte als Landsknecht seinen voluminösen, runden Bassbariton vorteilhaft zur Geltung und setzte sich schauspielerisch überzeugend ein. Als Einsiedel präsentierte Alexander Spemann sein festes, klares Tenormaterial, etwas monochrom zwar, aber in dieser Färbung wie auch im Spiel der Rolle durchaus angemessen. Stefan Bootz ließ sich vom Intendanten als indisponiert ankündigen; aber in der Rolle des kalten, zynischen Hauptmanns war das seinem fokussierten kräftigen Bassbariton kaum anzumerken. Im Saal des kleinen Hauses braucht man zudem keine volle Kraft. Jürgen Rust als Gouverneur mit weichem tief timbriertem Tenor hatte sängerisch nur eine kleine Rolle.

Großer Beifall aus dem sehr gut besuchten Hause nach der neunzig-minütigen eindringlichen Vorstellung. Weitere Vorstellungen am 23.10.2014, 30.10.2014, 2.11.2014, 17.11.2014, 25.11.2014

Manfred Langer, 19.10.2014
Fotos: Andreas J. Etter

Eine empfehlenwerte Einspielung hat BR Klassik herausgebracht; die CDs sind beim Opernfreund auf der Seite CDs Opern besprochen