Meiningen: „Der fliegende Holländer“

Premiere am 16.10.2021

Am besten lässt man die Muster klassischer Holländerinszenierungen in der Erinnerungsschublade oder noch besser: Man hat noch nie eine gesehen. Dann kann man sich vorbehaltlos dieser Variante hingeben und sich mitnehmen lassen.

Die Ouvertüre öffnet den Blick in die Bar eines Kinos im Retrodesign der 50er Jahre. Vergilbte Tapeten, einige Tischchen und Stühle, der Tresen mit einem Barkeeper, der Gläser poliert und einen Gast bedient, an der Wand ein großes Filmplakat: „Fluch der Meere“. Davor sitzt eine junge Frau im braven Outfit: Faltenrock, Strickjäckchen und Blüschen. Sie faltet ein Papierschiffchen, tritt vor das Bild des Titelhelden, himmelt es an und wartet ungeduldig auf den Einlass. Diese Szene wiederholt und wiederholt sich, denn sie sieht sich den Film immer wieder an. Das Bühnenbild wird bleiben, alles wird sich in diesem „Wartesaal des Glücks“ abspielen, nicht auf dem Meer, nicht am Strand oder auf den Schiffen.

Trotzdem sind da die Inhalte der Arien, die in ein Zweiebenengeschehen mit einer Doppelbedeutung der Figuren führen. Dass das funktioniert, ist zum einen dem ungeheuer sensiblen Spiel der Meininger Hofkapelle zu verdanken, die den ganzen Facettenreichtum dieser romantischen Komposition Wagners in all ihrer Wucht und Zartheit zum Leben erweckt. Die Musik braust, umtost, schrillt, alarmiert, schmeichelt und schmiegt sich an Darsteller und Geschehen. Zum anderen sehen wir die Protagonisten in völliger Harmonie mit ihrem Schicksal, ihrem Denken, Tun und Fühlen. Nichts wirkt aufgesetzt oder distanziert. So kann trotz irritierendem Äußeren auch die eigentliche Geschichte aufleben.

Kapitän Daland gerät auf der Heimreise mit seinem Schiff in einen schweren Sturm und muss mit seiner Mannschaft in einer Bucht anlegen. Während er sich in der Bar betrinkt, hält sein Steuermann, der Barkeeper, Wache. Auch er möchte heim zu seiner Liebsten und spätestens, wenn er singt: “Ach lieber Südwind blas noch mehr…“ begreift der Theaterbesucher, dass sich hier ein metaphorisches Geschehen anbahnt, aber auch wenn plötzlich eine Schar von gläserpolierenden und serviettenwedelnden Kellnern hereinrauscht und lustig singt: „Hei, wie die Segel sich blähn“.

Der Holländer, verdammt durch einen Fluch, so lange auf den Meeren zu segeln, bis er eine Frau findet, die ihm bis in den Tod treu ist, darf für dieses Vorhaben nur alle sieben Jahre an Land. Er trifft auf Daland, offenbart ihm seine Sehnsucht nach einer Frau und zeigt ihm seine Schätze. Geldgierig bietet der ihm Gastfreundschaft und seine Tochter an. Senta ist eine Außenseiterin, sie hat nichts mit den anderen Frauen gemein, die nun alle ebenfalls uniform gekleidet mit Strickzeug auftreten und freudig die Ankunft ihrer Männer erwarten. Völlig entrückt und voller Inbrunst singt sie die Ballade vom „Holländer“ und sieht ihr Schicksal in der Erlösung dieses Mannes. Als Erik, ein Jäger, der Senta liebt, deren Verblendung erkennt, will er sie warnen, retten, aber sie will nichts mit ihm zu tun haben. Hier endet der erste Teil und schon jetzt zeigt sich Wirkung im Publikum. Lena Kutzner gibt ihr Debüt mit einer solchen Intensität, dass man fast den Atem anhält.

Der Sopranistin gelingt es überwältigend, die Rolle der besessenen Senta in Mimik, Stimme und Gestik darzustellen. Sie gestaltet die Arien in einer solch empfindsamen Tiefe, dass man die Tristesse der Kulisse vergisst. Der Bariton Shin Taniguchi singt den Holländer in seiner Tragik, Verzweiflung und Hoffnung so überzeugend und tragend, dass es eine Wonne ist, ihm zuzuhören. Dagegen wirkt Bassbariton Tomasz Wija als Daland fast blass. Aber es gelingt ihm gut, den windigen, geldgeilen Typen darzustellen, der seine Tochter verkauft und wie eine Zuchtstute anpreist. Michael Siemon überzeugt als Erik in seinem Unglück, in der Verzweiflung und steigert seine stimmliche Kraft. Der Tenor Rafael Helbig-Kostka passt in die Rolle des Barkeepers und meistert seine Passagen ausdrucksvoll, ansprechend und souverän. Der Chor hat in Wagneropern stets besonderes Gewicht und Bedeutung. Er fungiert niemals nur Hintergrundmusik. Hier agieren Sängerinnen und Sänger mit schauspielerischem Talent und perfekter Choreografie in originellen Kostümen.

Im zweiten Teil trifft Senta auf den Holländer, erkennt ihre Bestimmung und gibt sich ganz der Erfüllung ihrer Träume hin. Sie wird blind für ihre Umwelt und erträgt weder den peinlichen Vater, noch das Getue und die Wertvorstellungen der anderen Frauen. Sie ist besessen von der fixen Idee, den Seefahrer zu erlösen, und gleitet aus der Realität in eine Traumwelt, blind für alle Unglückszeichen. Dieser ist anfänglich noch skeptisch, ob sie weiß, worauf sie sich einlässt, aber am Ende feiert man zu dritt Verlobung mit Piccolo und einer Partie „Mensch ärgere dich nicht“. Als Erik Senta noch einmal eindringlich an ihr einstiges Treueversprechen erinnert, zerbricht das Glück. Der Holländer glaubt nicht mehr an einen glücklichen Ausgang seiner Geschichte, auch wenn Senta sich sogar das Leben nehmen will, zum Beweis ihrer Liebe, was er noch verhindert und verschwindet. In der Schlussszene sind wir wieder am Anfang, im Kino, am Ende einer Vorstellung….Aber ich verrate nicht, wie es ausgeht.

Man versteht diese Inszenierung erst rückwärts. Der Regisseur Kay Metzger verlegt den Schauplatz ins Kino, um Sentas Besessenheit zeitgemäß zu erklären. Der Schwarm für Filmhelden kann zur Obsession führen. Gerade Teenager fixieren sich auf Rock- oder Filmstars, leben in deren Filmwelten, übernehmen deren Gewohnheiten und werden blind für die Realität. Der Ausbruch aus einer langweiligen oder fordernden Gesellschaft und die Flucht in eine Fantasiewelt sind gar nicht so selten. Die allgegenwärtige Medienpräsenz wirkt wie eine Droge und die, die anders sind oder sein wollen, verfallen der Sucht.

Nach fast drei Stunden Spieldauer und einer so großartigen Leistung aller Akteure brandet ein wahrer Sturm der Begeisterung im Publikum auf. Jubelschreie, Bravorufe, Standing Ovations und Applaus, Applaus, Applaus zeigen: Selbst eine so auf den ersten Blick verrückte Inszenierung kommt an, und wie!!! Dabei war das Durchschnittsalter der Besucher geschätzt sicher bei 55 aufwärts.

Inge Kutsche 18.10.2021

Bilder (C) Staatstheater Meiningen