Da steht ein riesiges Eichhörnchen im kalten Winterwald: Hilmar, allein der Name bringt die jungen Besucher schon zum Quietschen. Zupft er dann auf seiner Mini-Gitarre und erzählt sein Schicksal, hat er bereits die Sympathien gewonnen. Er friert, ist hungrig, alleine und trotzdem keine jämmerliche Figur. Er nimmt sein Leben in die Hand. Als er das „Geißenheim“ entdeckt, einen nicht ungemütlichen Stall, wo Muttertier Josefine mit fünf Adoptivziegen lebt, bittet er um Asyl. Warum soll er nicht zum sechsten Zicklein mutieren? Er gerät an die Richtige, die ein Herz für Kinder hat, und darf bleiben. Ziegenbock Torwald, der mürrische, übelgelaunte Mann im Haus, droht deshalb auszuziehen, was kein Verlust für seine Frau bedeuten würde. Taff geigt sie ihm die Meinung und schmeißt ihn raus. Ihre turbulente Brut mischt inzwischen mit Kissenschlachten, verfremdeten Weihnachtsliedern und Klamauk den Laden auf und als Hilmar sich mit seiner Jingle-Bells-Adaption präsentiert, wird er ohne Wenn und Aber aufgenommen. Dick aufgetragen und überzeichnet zeigen sich die unterschiedlichen Charaktere dieser Patchworkfamilie. Ein temperamentvolles Showgirl, umtriebig und quirlig, unterhält mit Gesangseinlagen. Die „Schwester“, auffallend gestylt, steht ihr fast in nichts nach und der Punker kultiviert sein Outfit mit wirrer Mähne und mimt den „Gefährlichen“, tut aber keinem etwas.
Der andere „Bruder“, ein lustiger und kameradschaftlicher Bursche, wirkt ausgleichend und der Fünfte im Bunde, gebildet, intellektuell mit literarischen Ambitionen, wird auch akzeptiert. Jeder ist anders – und darf es sein. Als Josefine die Ziegen über ihre Statusänderung zu „alleinerziehend“ informiert, ist es selbstverständlich, dass sie Geld verdienen muss. Bevor sie zur Schicht in die Ziegenkäsefabrik geht, trägt sie den Tieren auf, Weihnachtsvorbereitungen zu treffen und warnt vor einem eventuellen „Besuch“ des Wolfes. Kaum ist sie weg, ist erst einmal Disko angesagt. Songs wie „In der Ziegenkäserei“ statt Weihnachtsbäckerei haben natürlich Wiedererkennungswert beim Publikum. Während die Ziegenkinder sich nur halb ernsthaft am Grimmschen Märchen orientieren, schleicht der Wolf durch den Wald. Nicht ungepflegt, im grauen Frack, mit langem Schwanz, fasziniert von einer veganen Speisekarte, hat er so gar nichts Gefährliches an sich. Nichts wünscht er sich mehr als einen radikalen Imagewechsel, obwohl er damit den Rauswurf aus dem Rudel riskiert, dafür aber Freunde findet. Wieder ist Showtime, wenn er sich mit seinem Rock-’n’-Roll-Song „Ich sag Nein“ outet und kein Fleisch mehr essen will. Ganz so einfach geht das allerdings nicht und er wirft deshalb „Fresslustblocker“ ein. Ab jetzt laufen altes Märchen – hervorgekramt von den Kindern – und das neue parallel. Sie sind gewappnet und warten sensationsgierig und auch etwas ängstlich auf den Überfall. Eigentlich dürfte ja nichts mehr passieren, aber der Wolf verfällt ins alte Muster, weil ihm die Medikamente ausgehen. Mit Gewalt verschafft er sich Zutritt und frisst bis auf Hilmar alle. Erschüttert über sein Verhalten will er sich umbringen und vorher noch einen Entschuldigungsbrief schreiben, schläft jedoch ein. Josefine kommt heim, will die Bestie töten, doch Hilmar verhindert es. Jede Tat sollte erst hinterfragt werden. Auch der Wolf ist „ein Mensch“ mit besonderen Beweggründen. Wie im Urmärchen sind die Tiere im Bauch noch am Leben, aber es gibt keinen Mord. Im Glauben an die Magie des Weihnachtszaubers und der Phantasie geschieht in der alten Standuhr eine spektakuläre Transformation mit „Hokuspokus Mählalabim“.
Alle kehren zurück und Josefine findet im ehemaligen Wolf, der zum Ziegenbock Josef mutiert ist, einen veritablen und potenten Ehemann… und das siebte Geißlein ist schon unterwegs. Mit einer rockigen O-Tannenbaum-Version feiern sie das „Fest der Liebe“, bei dem „man auch Glück verschenken kann“. Schade, dass der Spaß nach einer Stunde schon vorbei ist. Katharina Brankatschk vom Theater Halle kreierte eine fetzige und turbulente Version des alten Märchens. Dieses Minimusical mit vielen Adaptionen von Weihnachtsliedern nimmt die Kinder vom ersten Augenblick an mit und begeistert durch eine sehr abwechslungsreiche, originelle und rasante Darstellung. Jede Ziege hat ihren Stil zu singen, zu sprechen, zu tanzen und sich zu bewegen. Jede verkörpert einen Typ, jede führt sich individuell eindrucksvoll auf und wenn auch der Spaß und Witz dominiert, sieht man hier keine alberne Comedy. Die ganze Truppe sprüht vor Spielfreude und turnt – je nach Typ – im Überschwang über die Bühne oder vermittelt eine tiefere Ernsthaftigkeit, die auch den Kindern nicht verborgen bleibt. Mit feinem Gespür für die Möglichkeiten, die der alte Stoff bietet, um auf aktuelle Themen einzugehen, sendet dieses Stück viele Botschaften aus: Ganz besonders die, dass niemand, in eine Rolle gedrängt, ein widernatürliches Leben beibehalten muss, er kann sich ändern. Auch zeigt dieser bunt zusammengewürfelte Haufen viel Gemeinschaftsgefühl und Solidarität, keiner wird ausgegrenzt. Schließlich macht Josefine Mut, unglückliche Beziehungen zu lösen und offen für etwas Neues zu sein, was auch für den Rest der Familie ein Gewinn ist. Susanne Cholet hat sich für jeden Typ ein attraktives Kostüm ausgedacht und das Bühnenbild schlicht und effizient mit zahlreichen Lichteffekten gestaltet. Die Gastvorstellung des Theaters Eisenach war ein voller und wohl verdienter Erfolg.
Die Sorge vieler Bühnen um Nachwuchspublikum brauchen die Thüringer nicht zu fürchten. Mit dem „Jungen Theater“, einem attraktiven Angebot und theateraffinen Schulen wird hier der Grundstein für die Liebe zum Theater gelegt.
Inge Kutsche, 7. Dezember 2022
Staatstheater Meiningen
„Der Wolf und die sieben Geißlein“
Familienstück nach den Gebrüdern Grimm von Katharina Brankatschk
Produktion des Landestheaters Eisenach
Premiere: 6. Dezember 2022
Besuchte Vorstellung: 7. Dezember 2022
Weitere Vorstellungen: 8. + 9. Dezember, 29. Januar 2023