Meiningen: „Der Barbier von Sevilla“, Gioachino Rossini

Premiere am 21. Oktober 2022

Dichtung von Cesare Sterbini
Regie und Inszenierung: Brigitte Fassbaender
Musikalische Leitung: Jonathan Brandan

Eigentlich ist der Inhalt recht banal und hundertfach Stoff von Opern und Operetten: Ein alternder Mann möchte ein junges Mädchen heiraten, wird aber von einem jungen Liebhaber und einem gewitzten „Helfer“ übertölpelt. Aber keine Sorge, hier entsteht kein blödelndes Verwirrspiel, in dem sich oberflächlicher Ulk an Ulk reiht, sondern eine Geschichte, so ehrlich und intensiv wie möglich, die von der Musik getragen wird. Brigitte Fassbaender gestaltet die skurrilen Charaktere ihrer Protagonisten und deren ganz persönliche Schicksale mit Tiefgang und einer Komik, die weniger die Lacher, sondern Mitfühlen provoziert. Da ist nichts dem Zufall überlassen, jede Mimik, jede Geste hat Sinn, nichts verwischt oder verschmilzt. Unaufdringlich aber glasklar zeigen sich die Wesenszüge der grundverschiedenen Personen nicht von ungefähr. Eine solche Regiearbeit gelingt nur, wenn alle Darsteller sich mit ihren Rollen identifizieren und deren Emotionen und Verhaltensweisen verinnerlichen. „Wir kamen uns vor wie in einer Meisterklasse, die von einer der ganz Großen geleitet wurde, mit Schwung, Esprit und auf Augenhöhe.“ Keiner konnte sich der Faszination und dem Charisma dieser Frau entziehen, die ihrerseits von der Qualität des Ensembles begeistert war.

Zusammen mit ihrem Komödienspezialisten Dietrich von Grebmer entwarf sie die Kostüme und ein Bühnenbild, das dem Schreiben huldigt und den Handykult außen vor lässt. Ein überdimensionaler alter Schreibtisch in dunklem Holz mit vielen Schubladen, Türen und höchst wandelbar mit zahlreichen Funktionen wird zum Haus Dr. Bartolis, in dem sein Mündel Rosina eingesperrt ist. Auf der Oberfläche liegen ein riesiger Stempel und ein Bleistift, die später tatsächlich kurios zum Einsatz kommen. Gleichzeitig fungiert der Ort als Terrasse und Treffpunkt. Ständig wird irgendetwas geschrieben: Briefe, Listen und Dokumente. Ein leuchtend gelber Briefkasten der spanischen Post am linken Bühnenrand wird immer wieder von verschiedenen Personen gefüttert, gestreichelt und regelmäßig geleert und während der Ouvertüre spurtet ein Postbotenballett in witzigen blau-gelben Kostümen über die Bühne.

Wenn gleich zu Beginn Figaro raumfüllend, umtriebig und souverän die Truppe niederknien lässt, um allen die Haare zu schneiden, wird schnell klar, wer hier die Fäden zieht. Lässig und cool verkörpert Johannes Mooser einen Tausendsassa mit einer solchen Intensität, dass er augenblicklich zum Publikumsliebling wird. Er strotzt vor Selbstbewusstsein – einerseits – fühlt sich aber auch sichtbar in der Pflicht, alles richtig zu machen. Schließlich soll er hier Schicksal spielen, was ihm nicht nur nebenbei auch einen schönen Profit einbringt. Für ihn gilt nicht: „Kleider machen Leute“. Im ausgeleierten T-Shirt, Aufschrift „Faktotum“, blauer Hose und Umhängetasche trägt er sich mit einer Selbstverständlichkeit zur Schau und sein gewaltiger Bariton beherrscht die gesamte Klaviatur dieser anspruchsvollen Rolle hinreißend und brillant. Nun gilt es, Graf Almaviva, der sich in Rosina verliebt hat, zu helfen, sie zu erobern und aus den Fängen Dr. Bartolos zu befreien. Figaro rät mit Erfolg zum Liebesständchen. Zart, fast schüchtern, singt sich Rafael Helbig-Kostka ins Herz der Angebeteten, die natürlich auch die Chance wittert, aus ihrem Gefängnis zu entkommen. Noch weiß sie nicht, dass ihr Verehrer ein Graf ist, er gibt sich als armer Student Lindoro aus. Obwohl sie von den Hausangestellten gut bewacht wird, schreibt sie dem Verehrer einen Brief und Figaro spielt den Postillon d’amour. Doch inzwischen erzählt Musiklehrer Don Basilio Dr. Bartolo, dass er wohl einen potenten Nebenbuhler hat. Mikko Järviluoto spielt diesen Intriganten grandios abstoßend. In schmuddeliger Priesterkutte, die schwarze Aktentasche stets verkrampft an die Brust gedrückt, verkündet er mit schleppendem Bass, dass man mit einer Verleumdung den anderen ausschalten könnte. Der Barbier besucht Rosina und alarmiert sie mit den Heiratsplänen ihres Vormunds. Sie ist entsetzt und gibt ihm einen Liebesbrief für Lindoro mit, was nicht unbemerkt bleibt. Tomasz Wija mimt den alten Bock Bartolo – schon rein äußerlich eine Zumutung für das junge Mädchen –  so authentisch widerlich, dass man gar nicht anders kann, als das junge Mädchen zu bedauern: ein Glatzkopf mit rotem Fransenhaarkranz im braunen Altmänneranzug, ätzend, streng und introvertiert, der vordergründig absolut nichts Liebenswertes an sich hat und seine Haushälterin begrapscht. Er beschimpft seine Braut, demütigt sie, die gelähmt vor Schreck und Ekel seine Tiraden über sich ergehen lässt… äußerlich. Sara-Maria Saalmann, dieses anmutig zierliche Geschöpf, verkörpert eine Rosina, die sich wohl zu wehren weiß und ihr Glück in die Hand nimmt. Ihre wunderbar klangpräzise Stimme modelliert alle Facetten an Emotionen und sie gibt hier ein erstaunliches Rollendebüt.

Die Idee, sich als betrunkener Soldat bei Dr. Bartolo einquartieren zu lassen, stammt natürlich von Figaro und glückt nur ansatzweise. Rafael Helbig-Kostka fühlt sich in dieser Rolle sichtlich wohl und zeigt als angeheiterter Tenor ein ganz besonderes Timbre. Der Hausherr fühlt sich bedroht, ruft die Wachen, die als Toreros erscheinen und ein Chaos veranstalten. Um einer Verhaftung zu entgehen, steckt der Graf dem Hauptmann, wer er wirklich ist. Das Finale des ersten Akts liefert ein Spektakel, bei dem fast das gesamte Ensemble auf der Bühne in Aktion ist und in rasendem Tempo spielt und singt – jeder für sich. Im zweiten Akt erscheint Almaviva, verkleidet als „barocker Musikus“, in Vertretung für den angeblich erkrankten Don Basilio im Hause Dr. Bartolos, um Rosina zu unterrichten. Sie spielt mit und während der Barbier den Hausherrn rasiert, mopst er den Balkonschlüssel, um die Flucht um Mitternacht zu ermöglichen. Zu allem Übel erscheint nun auch der angeblich erkrankte Don Basilio. Musik und Spiel gewinnen immer mehr an Drive, ständig singen alle gleichzeitig, die Ereignisse jagen sich. Bartolo entdeckt den Schwindel, bittet den Musiklehrer, den Notar zu holen, um schnell die Heirat mit seinem Mündel zu besiegeln.

Inzwischen macht Monika Reinhard als Haushälterin Berta ihren Gefühlen Luft: Mit perlender Koloratur setzt sie sich hochprofessionell in Szene. Ständig muss sie die derben Anzüglichkeiten ihres Chefs abwehren und für sie gab es noch immer wenig Glück in Liebesdingen. Auch sie schreibt Briefe und wartet, dass sie ihren Postboten bekommt. Bartolo sieht seine Felle davonschwimmen. Er erzählt Rosina, dass ihr Liebster eine andere hätte, die nun zutiefst verletzt, doch in eine Heirat mit ihm einwilligt. Gewitter, Sturm und Regen peitschen die Dramatik der Situation. Als wie verabredet Figaro und Almaviva kommen, um sie zu befreien, verstößt sie ihn. Da gibt er sich als Graf zu erkennen und sie gesteht ihm ihre Liebe. Figaro mahnt zur Eile. Genervt von dem Geturtel, will er seine Aktion zu Ende bringen. Don Basilio erscheint mit dem Notar und bevor Bartolo eingreifen kann, hat der Barbier die Heiratsurkunde für den Grafen und seine Braut unterschreiben lassen. Vergeblich ruft der Geprellte die Wachen, die Papiere sind gültig. Versteinert muss er zusehen, wie das Leben der anderen nun leuchtet: Berta bekommt ihren Postboten, Figaro genießt den Erfolg und ganz sachte bahnt sich auch für Don Basilio ein Hauch von Glück an. Ein scheuer Blick zum Notar. Ja, da finden sich gerade zwei Gleichgesinnte und ein Lächeln verzaubert dieses finstere Gesicht.

Im Finale entfachen Sänger, Chor und Orchester ein furioses Feuerwerk, Champagner fließt und alle empfinden Freude bis auf einen, dem das Ganze nun zu viel wird. Mit der Fernbedienung schaltet Dr. Bartolo Orchester, Bühnenspektakel und sogar das Publikum stumm. Dann branden nicht enden wollender Applaus und Begeisterung auf. Standing Ovations galten natürlich in erster Linie den Sängerinnen und Sängern, die mit einer scheinbaren Leichtigkeit die ausgefeilte Technik dieses exaltierten Gesangs mit einer umwerfenden schauspielerischen Leistung darboten. Brigitte Fassbaender hat mit diesem Ensemble eine „Geschichte“ erzählt, die Dirigent Jonathan Brandani mit der Meininger Hofkapelle zu großer Oper stilisierte. Fein abgestimmt auf das Bühnengeschehen untermalt die Musik, begleitet und trägt Emotionen und Handlung. Mit höchster Präzision und Werkstimmigkeit entstand hier eine musikalische Leistung der Spitzenklasse

Inge Kutsche

Fotos: Christina Iberl