Meiningen: „Die Feen“, Richard Wagner

Nachdem „Concerti“ die Meininger zum Publikum des Jahres 2022 gekürt hat, darf man ihnen zum Saisonstart schon etwas zumuten. Gleichwohl herrschen nach der langen Sommerpause sichtlich Vorfreude, Neugier und Offenheit für eine Erstaufführung der „Feen“ in diesem Haus.

Kein Theater wollte 1833 das Werk des jungen Komponisten aufführen, und dass er nach einigen Jahren kein Interesse daran mehr hatte, ist verständlich. Was ihn mit 19 Jahren ritt, ein Kind seiner Zeit und beeinflusst von den gängigen Opernkomponisten, etwas Ähnliches zu produzieren, würde seinen neuen Stil nur stören. Aber es ist Unsinn, „Die Feen“ als Jugendsünde zu bezeichnen, eher als ein Ausprobieren, um manches besser oder anders zu machen. So wies GMD Killian Farrell ganz eindringlich darauf hin, dass hier schon die Keimzellen für „Lohengrin“ und „Tannhäuser“, den „Fliegenden Holländer“ oder „Parsifal“ zu erkennen sind.

(c) Christina Iberl

Eigentlich bräuchte man sechs Augen, acht Ohren und drei Bewusstseinsebenen, um zu erfassen, was Wahn und Wirklichkeit, was Feen- oder Menschenreich, was Vergangenes oder Gegenwärtiges ist. Hört man jetzt Meyerbeer oder Beethovens „Fidelio“, Weber oder Mendelssohn, Mozart oder Berlioz? Erklingen da nicht schon Motive seiner späteren Werke? Regisseurin Yona Kim sieht in dieser Oper alle Ansätze Wagners multipler Persönlichkeit, den extremen Romantiker, der stets auf der Suche nach dem Unerreichbaren, dem Fernen, dem Schönen war und mit dem realen Leben schwer zurechtkam. Nicht von ungefähr verpasst sie ihrem „Arindal“ blaue Blumen, das Symbol unendlicher Liebe und Erfüllung, die er sorgsam hütet. Während Richard Wagner stets das Glück hatte, von Bewunderern und Gönnern getragen zu werden, landet in Yona Kims Inszenierung der Protagonist in der Psychiatrie. Zusammen mit dem neuen GMD Killian Farrell befreit sie das überladene Werk mitunter von unnötigen Wirren, Wiederholungen und Längen, belässt es aber in der Vormärzzeit, in der die Menschen zutiefst verunsichert waren. Es ist die Zeit vor der Revolution; Krieg, repressive Politik und Not bestimmen den Alltag. Viele streben nach dem biedermeierlichen Lebensideal: dem Rückzug ins Private oder in die Natur. Wer nun glaubt, eine klare Linie in der Handlung, den Figuren oder Musik zu finden, irrt. Es bleibt ein Mix aus Märchen, Phantasie und Realität.

(c) Christina Iberl

Die Vorgeschichte erklärt knapp die wichtigsten bisherigen Ereignisse: Arindal, Königssohn aus Tramond, ist mit seinem Freund Gernot auf der Jagd im Wald. Dort schießt er eine Hirschkuh, die sich in die Fee Ada verwandelt. Sie verlieben sich, und er darf sie nur dann heiraten, wenn er sie acht Jahre nicht nach ihrer Herkunft befragt. Er tut es natürlich doch und wird aus dem Feenreich verbannt. Da sein Vater inzwischen gestorben ist, sucht man den Thronfolger, der das bedrängte Reich verteidigen soll. Morald, der Geliebte seiner Schwester Lora, die inzwischen die Regierungsgeschäfte führt, sucht nach ihm, findet Gernot, und gemeinsam können sie Arindal zur Rückkehr überreden. Ada wird als Hexe denunziert, aber bei einer letzten Begegnung verspricht er ihr, sie nie zu verfluchen, was immer auch passiert. Morald und der Feldherr Harald ziehen in einen Krieg, den sie verlieren, weil Ada sich angeblich mit dem Feind verbündet hat. Zudem lässt sie ihre beiden Kinder scheinbar im Feuer umkommen. Arindal verflucht sie, weil er nicht erkennt, dass alles nur eine Prüfung seiner Liebe war und wird wahnsinnig. Ada wird in Stein verwandelt. Er liebt sie noch immer, macht sich auf die Suche nach ihr und findet sie nach vielen Prüfungen und mit Hilfe zweier Feen und des Zauberers Groma. Der Feenkönig nimmt beide ins Feenreich auf. Morald und Lora übernehmen die Regierung in Tramond.

Wenn sich nach der langen Ouvertüre der Vorhang öffnet, zeigen sich weder Wald noch Fee, dafür ein weiß gekachelter Raum in grellem Licht, ganz hinten ein Krankenbett, auf dem ein Mensch liegt. Die Texteinblendung der Vorgeschichte weist darauf hin, dass hier wirklich „Die Feen“ gespielt werden.

Türen öffnen sich und ein Chor von Frauen in schwarzen Kleidern mit weißen Schürzen und Hauben schwebt herein. Im Hintergrund erscheint die Projektion einer romantischen Landschaft im Stil Caspar David Friedrichs, die später immer wieder eine Rolle spielen wird. Regisseurin Yona Kim sieht Arindal als traumatisierten, lebensuntüchtigen Mann, der von der Realität und ihren Anforderungen erdrückt wird. Ängste, Wahnvorstellungen, aber auch Hoffnung und Sehsüchte beherrschen ihn, und so befindet er sich in einem Sanatorium. Bis zum Ende bleibt unklar, was nun tatsächlich Wirklichkeit, was nur Fiktion ist. Der Zuschauer wird eine Weile brauchen, bis er das versteht und sich erklären kann, warum die Personen oft seltsam emotionslos oder unbeteiligt wirken, warum oft alle auf der Bühne sind und distanziert kaum Anteil nehmen. Findet die ganze Feen- und Königreichsgeschichte also tatsächlich nur in Geist und kranker Seele statt? Scheint so, aber keinem Publikum wäre es zuzumuten, über drei Stunden in einem Krankenzimmer Mäuschen zu spielen. So lässt Yona Kim ihren Helden, der eigentlich ein Antiheld ist, durch die wagnersche Feenstory taumeln.

Morald ist im Auftrag von Arindals Schwester Lora unterwegs, um ihn zur Übernahme der Regierung zu überreden. Der alte König ist gestorben und mahnt nun als Geist zur Rückkehr. Eine Wand öffnet sich und im Hintergrund sitzen Lora, Feldherr Harald, Gernot und ein Priester an einem Tisch und konferieren. Ada taucht auf und besingt den Verlust des Gatten, doch Gernot gelingt es, Harald einzureden, dass sie eine Hexe sei.

Auch sie erfährt, dass ihr Vater tot sei und sie ihr Reich verlöre, wenn sie bei Arindal bleiben und eine Sterbliche werden würde. Sie warnt ihn, welche Schrecken auch kommen mögen, sie nicht zu verfluchen. Er schwört es. Im zweiten Akt tobt der Krieg im Königreich Tramand. Das Volk in blutiger, verdreckter Unterwäsche schreit nach Hilfe. Lora, perfekt gestylt im roten Businesskostüm, sitzt am Tisch, ungerührt. Sie mimt das schwache Weib, hält sich provokanter Weise eine Pistole an den Kopf, wofür die Menschen jedoch kein Verständnis haben. Da kommt endlich Morald, ihr Geliebter, mit dem Bruder zurück. Erleichtert übergibt sie ihm die Amtsgeschäfte symbolisch mit dem alten Königsmantel. Welch eine Bürde. Auch Gernot ist zurück und nach acht Jahren endlich wieder bei seiner Freundin Drolla, der Zofe Loras, die es mit der Treue nicht so genau nimmt und kokett ihre Reize spielen lässt. Ada ist hin- und hergerissen und besingt in einer Wahnsinnsarie stimmgewaltig ihre Seelenqual. Sie entscheidet sich für Arindal. Im Hintergrund erscheint wieder die Romantik Caspar David Friedrichs. Während Lora sich eiskalt und ungerührt ein Zigarette anzündet, nimmt das Geschehen Fahrt auf. Lichtwellen fluten das Publikum. Ada erscheint mit einem Kinderwagen, lässt ihn in Flammen aufgehen, Verletzte schleppen sich auf die Bühne und brechen zusammen. Blut fließt und Feldherr Harald beschuldigt Ada, sich mit dem Feind verbündet zu haben. Arindal verflucht sie und so wird sie zu Stein. Im dritten Akt lässt Morald sich vom Volk hymnisch feiern. Arindal ist dem Wahnsinn verfallen. Die Bilder von seinem Todesschuss auf die Hirschkuh verfolgen ihn und noch immer birgt er behutsam seine blauen Blumen. Sein Freund, der Zauberer Groma, macht ihm Mut, dass er alles erreichen kann. Zwei Feen geleiten ihn auf dem Weg zu Ada. Männer und Geister stellen sich ihm in den Weg, aber er besteht sämtliche Prüfungen und findet tatsächlich Ada, nicht versteinert, sondern als Frau im blauen Kleid, von Pfeilen durchbohrt mit einem Licht in den Händen. Der Chor singt „Mut, Arindal“ und so setzt er sich an den Flügel im Hintergrund, die blutende Hirschkuh füllt den Bühnenraum und der Feenkönig, geschminkt wie ein Clown, geleitet ihn zurück ins Feenreich… tatsächlich aber hinter Gitter, wo schon Ärzte mit den Spritzen auf ihn warten. Und Ada? Bislang immer nur barfuß, trägt sie jetzt rote Pumps, ein blaues Kostüm und strahlt.

(c) Christina Iberl

Lena Kutzner hat auch allen Grund zu strahlen, denn sie erweist sich wieder als eine Wagnerinterpretin auf höchstem Niveau. Die Rolle der Ada verlangt Hochdramatisches, qualvolle Passagen, Liebessehnsucht, Glück und Verzweiflung, die sie scheinbar mühelos klar bewältigt. Obwohl sie gelegentlich gegen die Lautstärke des Orchesters ansingen muss, wirkt sie nie angestrengt, sondern immer ganz in ihrer Rolle und rührt nicht nur das Herz Arindals, sondern auch das des Publikums.

Dass der Neue, David Danholt, gleich so eine Ausnahmepartie übernahm, zeugt von Mut. Noch etwas verhalten im ersten Akt, gewinnt er an Selbstvertrauen und Sicherheit und singt sich zunehmend frei. Die äußerst strapaziöse Rolle des Arindals verlangt Hochemotionales, Liedhaftes und Emphatisches. Er geht vorsichtig mit sich um, dosiert Lautstärke und Spiel auf solidem Niveau und meistert seine Partie einfach bewundernswert. Gut, dass er das Meininger Ensemble bereichert und in seinem Binnenklima reifen kann.

Auch neu in Meiningen, überzeugt Emma McNairy souverän und stimmklar als Lora. Sara-Maria Saalmann als ihre Zofe Drolla mit Gretchenfrisur hat zwar nur eine kleinere Rolle, aber die singt sie glockenrein. Deniz Yetim und Tamta Tarielashvili verkörpern energisch die beiden Feen, die sich durchaus gegen die Dominanz des Orchesters und des Chors behaupten. Mit Hans Gebhardt als Zauberer Groma, Selcuk Hakan Tıraşoğlu als Feenkönig und Mikko Järviluoto als Harald sind auch die Nebenrollen exzellent besetzt. Johannes Schwarz als Gernot feiert mit dieser Rolle sein Debüt in Meiningen. Chor und Extrachor unter der Leitung von Roman David Rothenaicher erbringen eine gewaltige Leistung, fast in Dauerpräsenz, und geben dieser Oper ein beachtliches Fundament.

Der neue GMD Killian Farrell hat sich mit Haut und Haaren voller Begeisterung in die Neuinszenierung dieses Mammutwerkes gestürzt, gekürzt, positiv umgestaltet, und die Hofkapelle lässt sich von ihm und seiner Empathie mitreißen, sodass aus dem Wagnerschen Schwulst ein brillantes Mosaik aus dem Original gedeiht. Frank Schönwald lässt die Chöre in konservativ biedermeierlichem Look auftreten: lange schwarze Kleider, hochgeschlossen, weiße Schürzen und Hauben, strenge Frisuren und die Männer in grauen Anzügen der Zeit, Bärte und Koteletten; ganz anders die Soldaten, das einfache Volk, abgerissen, schmutzig in blutiger Unterwäsche. Ada muss ein unvorteilhaftes schwarzes Kostüm „ertragen“, ein Menschenkleid, das eigentlich nicht für sie geschaffen ist. Warum sie am Ende in Blau gesteckt wird, erschließt sich nicht. Arindal trägt einen leicht derangierten Künstlerlook: Heller Schlabberanzug mit Weste und lockerem Hemd und zweifarbige Schuhe. Pfiffig kess das Grünschwarze Drollas. Morald wirkt albern im rosa-lila karierten Anzug und Gernot bekommt eine Art Jagduniform mit schwarzen Stiefeln verpasst. Auffällig, dass alle in ihre Kleidung eingezwängt erscheinen, einzig Arindal nicht. Bühnenbildner Jan Freese vermeidet ständigen Kulissenwechsel und verzichtet ganz auf die Drehbühne. Der große Raum bleibt und vermittelt Kontinuität und trotz der Geschlossenheit auch Fenster der Phantasie.

Und am Ende? Jubelnder Applaus, eine Viertelstunde lang. So hat es sich wirklich gelohnt, die geschmähten „Feen“ aus der Mottenkiste zu befreien und ihnen Thüringer Luft zum Atmen zu geben. Bayreuth darf ruhig etwas neidisch sein.

Inge Kutsche, 17. September 2023


Die Feen
Richard Wagner

Staatstheater Meiningen
Besuchte Premiere: 15. September 2023

Regie: Yona Kim
Musikalische Leitung: Killian Farrell
Meininger Hofkapelle

Weitere Vorstellungen: 20.09. | 01.10. | 07.10. | 05.11. | 12.11.2023 | 08.02.2024