Meiningen: „Salome“, Richard Strauss

Schon vor Beginn wirkt der Betrieb auf der Bühne auf die allmählich eintreffenden Besucher wie ein Aperitif. Im hinteren Teil nimmt gerade das Orchester Platz und darüber feiert auf einer 3,5 m hohen Traverse Herodes seinen Geburtstag mit Fast Food, Wein und Champagner. Eine Livekamera überträgt die primitive Fressorgie in Nahaufnahmen – nicht gerade appetitlich – auf zwei Videoleinwände. Auf einem großen türkisblauen Plateau, das bis an den Bühnenrand reicht, tanzt seine Frau im offenherzigen Partykleid, wirft Kusshände ins Publikum und ist offensichtlich nicht mehr ganz nüchtern. Eine schillernde Pagin ist ihr zu Diensten. Security, schwarzgekleidet und bewaffnet, sowie eine geschäftige Eventmanagerin haben alles im Blick. Seitlich stehen einige Stühle für echte (!) Zuschauer. So hat das Ganze Arenacharakter. Alle bisherigen Salome-Inszenierungen sind vergessen und mit dem Einsetzen der Musik ist man schon mitten im Geschehen. Was nun 1:1 in Echtzeit abläuft, ist fast Episodentheater. Zwar sind alle Schauspieler nahezu permanent auf der Bühne beschäftigt, in Momentaufnahmen steht jedoch meist nur eine Figur hyperpräsent im Vordergrund und nimmt sich dann wieder zurück. Es gibt keine wirklichen Dialoge, keine Erzählung. Das übernimmt – so die geniale Idee des Komponisten – das Orchester. Der Stoff ist pervers und bedarf der entsprechenden Musik. Bitonalität, Disharmonien, wilde und ausdrucksstarke Klangszenarien liefern keine leichtgängige Untermalung, sondern Nervenkitzel und Schock statt süßlicher Tradition und Wohlklang – Verfremdungseffekte im Sinne Brechts „Epischem Theater“. Harish Shankar und der Meininger Hofkapelleglückt die Klangerzählung so intensiv, dass man weder Worte noch ausladende Szenen braucht.

© Michael Reichel / arifoto

Salome verlässt die Festtafel, angewidert von dem lüsternen Stiefvater und gelangweilt vom Geschwätz der Gäste. Neugierig auf den Mann, der seit Jahren gefangen gehalten wird, bezirzt sie Hauptmann Narraboth, der sie verehrt, ihn aus dem Kerker zu holen. Tatsächlich wird Jochanaan, noch verhüllt mit Kapuze, von Trainer und Wächter durch den Zuschauerraum auf die Bühne gebracht, wo flugs ein Boxring aufgebaut wurde. Sofort präsentiert er sich selbstbewusst den Medienleuten, auf dem Rücken ein riesiges Tattoo „Prophet“, vollführt Warm-Ups und beginnt verbissen den Kampf gegen einen imaginären Gegner. Er wettert gegen Herodias und ihren schändlichen Lebenswandel, stößt fanatische Prophezeiungen aus und nimmt dabei seine Umwelt kaum wahr. Salome ist fasziniert von diesem Wilden und steigt in den Ring. Allein der Anblick ist schon grotesk: Sie in üppiger rosa Glitzerrobe und er halbnackt im Boxeroutfit, bleich, verzerrtes Gesicht und wirre Haare. Sie will ihn berühren, küssen und er stößt sie angewidert weg, sieht sie nicht einmal an. Von oben schaut man dem Treiben belustigt zu. „Brot und Spiele“ sind das Motto, das auch dort zu lesen ist. Narraboth versucht nun gegen den Mann zu kämpfen, hat aber keine Chance und wird getötet.

Jochanaan geht nach oben und setzt sich an die Tafel. Die Party findet jetzt unten statt. Herodes sitzt teilnahmslos in einer Ecke, die Gäste streiten und Salome kann den Blick nicht von Jochanaan lassen. Goldenes Licht gleißt, fulminante Musik erklingt wenn sein „Der Tag ist nah“ ertönt. Alle sind starr, Herodias schmeißt Tabletten ein. Da bittet der König Salome, doch für ihn zu tanzen und verspricht, ihr jeden Wunsch zu erfüllen. Es braucht keinen peinlichen Schleiertanz, nur ein paar wiegende Schritte und Herodes, der sich unter einem Kissen selbst befriedigt, kommt schnell zum Orgasmus – igitt!! – und schläft ein. Herodias und Salome malen ihm mit Lippenstift eine rote Nase und Schnurrhaare, die anderen sitzen vor dem Orchester und sehen zu.

© Michael Reichel / arifoto

Jochanaan beobachtet alles von oben und unterliegt schließlich der Versuchung und isst und trinkt. Als Herodes wieder aufwacht, fordert Salome die Erfüllung ihres Wunsches: Den Kopf Jochanaans. Er ist entsetzt, weil er die Folgen fürchtet und bietet ihr weiße Pfauen, das halbe Königreich und Diamanten an, die in 20 Tüten von Luxusherstellern in den Ring gebracht werden. Sichtlich genervt von seinen Ausflüchten beharrt sie auf ihrem Willen, bis er schließlich nachgibt. Der Prophet wird abgeführt, auf den Videos tropfen die Champagnerflaschen, das Orchester steigert die Spannung, die Musik übernimmt die Ungeheuerlichkeit, Salome wird zur Furie, scheinbar hysterisch und oben frisst Herodias Pommes, ungerührt, was die Vorgänge unten betrifft. Die Pagin bringt den Kopf in einer Silberschüssel, zitternd und Salome besingt die Schönheit des Mannes, fasst dabei aber die Frau an, streichelt sie und wagt sichtlich angeekelt keinen Blick auf dessen Haupt. „Warum hast du mich nicht angesehen?“ In der Schlussszene rechtfertigt sie mit irrem Gesang ihr Tun und küsst schließlich die Pagin. Herodes befiehlt von oben, Salome zu töten, wird aber blitzschnell von Herodias erstochen. Beide Frauen strahlen und umarmen sich. Ist es das, wonach sie sucht: Die Liebe einer Frau?

Regisseurin Verena Stoiber greift die Grundidee Richard Strauss’ auf, den Herodesclan samt Jochanaan zu karikieren, wobei letzterer besonders wenig Format abbekommt. Die übertriebene Askese und Körperoptimierungssucht, der Hass auf Frauen sind lächerlich. Er hat so gar nichts von einem Propheten, dem man Gehör und Glauben schenken möchte. Seine fanatischen Dogmen wollen keinen Dialog. Er sieht niemandem in die Augen und fast drängt sich der Gedanke an scheinheilige Kirchenmänner unserer Zeit auf. Shin Taniguchi quält sich sehr überzeugend und macht aus seinem Ekel vor dieser dekadenten Oberschicht keinen Hehl, obwohl ihm kaum einer Gehör schenkt.

Für Salome ist er ein Exot aus einer Gegenwelt. Das reizt sie und weckt Neugier. Die Lust, ihn zu berühren und zu küssen, reicht aber dann doch nicht, sich in die Lippen eines abgeschlagenen Kopfes zu verbeißen. Herrlich übertrieben und so echt beherrscht Dara Hobbs die Mimik des Teenagers, ob genervt, angeekelt oder fasziniert. Raffiniert spielt die Prinzessin mit denen, die etwas von ihr wollen, mal scheinbar kindlich naiv, mal stur und berechnend. „Ich will … !“ ist ihre Devise und in ihrem Schlussgesang läuft sie zur Hochform auf.

© Michael Reichel / arifoto

Herodes, gespielt von Johannes Preissinger in mottenfarbigem Altmänneranzug, lila Hemd und Pappkrone, ist ein farbloses Auslaufmodell. Er ist reich, hat Macht, aber keiner hört ihm zu. Als arroganter und unkultivierter Vertreter einer verdorbenen Gesellschaft verkörpert er die Endzeitstimmung. Gelangweilt und übersättigt wirkt er beziehungslos zu seiner Umwelt.

Seine Frau Herodias, sehr augenfällig dargestellt von Tamta Tarielashvili, ist zwar ein egoistisches Weib mit nymphomanen Zügen, aber nicht unsympathisch und weit lebendiger. Sie lebt nach dem Motto „Carpe diem“, mal albern, mal sinnlich und alles andere als eine liebende Gattin. Dass sie am Ende blitzschnell den Tetrarchen absticht und dadurch ihre Tochter rettet, ist eine tolle Idee der Regie.

Hauptmann Narraboth, Alex Kim, darf in diesem Endzeitzoo nicht fehlen. Er opfert sich, wenn er in den Ring steigt, um Salome zu schützen. Schließlich hat er den Gefangenen freigelassen und bezahlt dies mit seinem Leben.

Marianne Schechtel als Pagin firmiert als Mädchen für alles und ist letztlich die stille Größe, die am Ende Hoffnung weckt. Es sind die Kleinen, die die Welt am Laufen halten, während die Großen sie vernichten.

Die gesamte Inszenierung strotzt vor Ironie. Das beginnt schon beim Festbankett, wo keine Delikatessen, sondern Berge gewöhnlichen Fast Foods auf Silbertabletts gereicht werden. Noch dazu muss man sich in Dauerschleife Johannes Mooser, einen der jüdischen Gäste, im Großformat ansehen, wie er die Soße von Chicken Wings schleckt. Die Medien, hier vertreten durch einen übereifrigen Kameramann, sind stets präsent, filmen und übertragen alles, sei es noch so banal. Natürlich darf da auch der Auftritt Jochanaans im Boxeroutfit mit Propheten-Logo nicht fehlen. Kurios ist außerdem, dass Herodes den Tanz verschläft und dafür die rote Clownsnase verpasst bekommt. Er merkt es gar nicht. Auch dass Salome am Ende mit dem blutigen Schlachtprodukt nichts mehr anzufangen weiß und sich ekelt, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Den Vogel schießt natürlich Herodias ab, wenn sie letztlich den Spieß umdreht und ihren Gatten meuchelt.

© Michael Reichel / arifoto

Auf Susanne Gschwenders offener Bühne breitet sich für das Publikum ein höchst interessanter und farbenfroher Rummelplatz aus, auf dem es immer etwas zu sehen gibt, ohne dass zu viel Aktion stört. Das Orchester im Hintergrund live zu erleben, ist eine Wucht, originell die VIP-Lounge hoch oben, und der Boxring in Türkisblau mit roten Seilen im Vordergrund das Zentrum, in dem sich fast alles abspielt. Warum gerade ein Boxring? Weil jeder seine Kämpfe mit sich ausfechten muss: Jochanaan, der fanatische Sportler, Prophet und Asket gegen die verdorbene Gesellschaft, Anfechtungen und Frauen, Herodias gegen Langeweile und Überdruss, Narraboth gegen seine Gefühle für Salome, die Juden in strittigen Glaubensfragen und Ansprüchen… Außerdem ist er ein fast geschlossener Bereich, aus dem es nur schwer ein Entkommen gibt. Die Idee, die Übertitel auf den Videoleinwänden mit entsprechenden Bildern laufen zu lassen, ist gut und lenkt auch nicht wie sonst üblich ab. Clara Hertel entwarf passgenau, typ- und rollenbezogen originelle und abwechslungsreiche Kostüme.

Salome ist aktueller denn je und in dieser Inszenierung eine äußerst gelungene Mischung aus Oper und Zeitgeistszenario, ohne allzu dick aufzutragen. Der Rahmen passt, das gesamte Ensemble ist großartig und die musikalische Leitung samt Orchester – wie einfach immer in Meiningen – zum Niederknieen.

Inge Kutsche, 19. Juni 2023


Salome

Richard Strauss

Besuchte Premiere: 16. Juni 2023

Inszenierung: Verena Stoiber

Musikalische Leitung: Harish Shankar

Meininger Hofkapelle

Weitere Vorstellungen: 25. Juni | 9., 12. Juli | 3., 24. November | 21. Dezember 2023 | 13. Januar 2024