Premiere am 16.09.2022
Meiningen im Sommer: Ein Banner mit dem Titel „Die tote Stadt“ sorgt für Irritationen. Eigentlich soll es an gewohnter Stelle auf die Spielzeiteröffnung mit dieser Oper hinweisen, könnte aber auch als Proklamation der Verödung dieser Stadt verstanden werden. Also: weg damit. Schade, denn die südthüringische Kleinstadt hat einen Herzschrittmacher, um den sie vielerorts beneidet wird: das Staatstheater Meiningen. Berühmt dafür, Außergewöhnliches und Anspruchsvolles zu bieten, bringt es Erich Wolfgang Korngolds Oper „Die tote Stadt“ auf den Spielplan, die 1920 uraufgeführt wurde.
Inspiriert von Georges Rodenbachs Romanvorlage „Bruges-la-Morte“, komponierte er dieses Musikwerk, das ihn mit einem Schlag berühmt machte. Im Zentrum steht Paul, der sich ganz der Trauer um seine verstorbene Frau hingibt und nur noch in der Welt der Erinnerungen lebt.
Regisseur Jochen Biganzoli geht mit dieser Inszenierung neue Wege. Auf einer bühnenfüllenden überdimensionalen Leinwand zeigt ein Video die Vorgeschichte. Dazu erklingt der 3. Satz aus Korngolds „Symphonischer Serenade“ op. 39. Fast wie im „Tatort“ betritt ein Mann die Pathologie, wo er seine tote Frau zum letzten Mal sehen wird, um sich zu verabschieden. Die Nüchternheit des Raumes im kalten Licht, der Anblick der Toten, das versteinerte Gesicht des Mannes und die Schwere der Musik vermitteln all die Tragik des Verlusts. Die nächste Szene zeigt ihn am nackten Tisch, vor sich Brot und Käse in der Verpackung. Er weint. Bilder im Hintergrund zeugen von glücklichen Zeiten. In Wut und Verzweiflung zerstört er auf dem Bett einen Rosenstrauß. Dann sieht man ihn auf dem Friedhof, es regnet, der Blick fällt auf ein schlichtes Holzkreuz und im Hintergrund auf einen schmucklosen Wohnblock. Die Kamera fokussiert eine rote Rose, die am Boden liegt und verwelkt. Die letzten Szenen zeigen ihn in der Wohnung am Fenster, während der Regen rinnt. Später kauert er vollständig bekleidet in der Badewanne. Videokünstlerin Jana Schatz hat mit diesen Filmsequenzen die unendliche Verlassenheit und den bohrenden Schmerz so verdichtet, dass sich das Publikum dem nicht mehr entziehen kann.
Im ersten Bild hat der Zuschauer anfangs Mühe, sich in der Düsternis zu orientieren. Brigitta, Pauls Haushälterin, erzählt seinem Freund Frank, welchen Totenkult er seit Jahren betreibt. Nicht von ungefähr lebt er nach dem Verlust seiner Frau Marie im morbiden Brügge und empfindet seine Wohnung als „Kirche des Gewesenen“, in der er mit Bildern und Reliquien ein Schattendasein führt. Paul kommt nun von einem Spaziergang zurück, völlig aufgedreht, weil er einer Frau begegnet ist, die der Verstorbenen gleicht. Überzeugt, dass sie aus dem Totenreich zurückgekehrt ist, lässt er Rosen besorgen, die Bühne dreht sich und überall sieht man Bilder Maries. Pathetisch und aufwühlend gestaltet die Musik diese Euphorie und Erwartung. Frank beschwört ihn vergeblich, sich doch einer lebenden Frau zuzuwenden. Der Raum gewinnt an Licht und Farbe, Marietta erscheint ganz in Weiß, kokett mit Schirm, geschmeichelt, dass sie eingeladen wurde. Paul hält sie tatsächlich für Marie, sie lässt sich darauf ein und mit dem Lied „Glück, das mir verblieb“ singt sie sich nicht nur in sein Herz, sondern auch in das des Publikums. Die glanzvolle Partie beider Protagonisten in diesem Duett gehört zu den schönsten der Oper. Er kann sein Glück kaum fassen, während sie, die Tänzerin in einer Theatertruppe ist, über seine Gefühlsduselei lacht.
Inzwischen rufen die Schauspieler, ein munteres, frivoles und ausgelassenes Völkchen, schon von den Rängen nach ihr und stören damit die Zweisamkeit. Maries Bild erscheint, ein exaktes Pendant zu Marietta, die den faulen Zauber erkennt und in ihre Probe verschwindet. Marie erscheint und beschwört die Ewigkeit ihrer Liebe. Paul hat Schuldgefühle, ist aber der erotischen Ausstrahlung der anderen bereits verfallen. Nebel wallen, die Musik schrillt dramatisch und unterstreicht den Gewissenskonflikt. Waren bislang die Räume schwarz, durchziehen nun farbige Leuchtbänder die Wände. Brigitta heißt seinen Stimmungsumschwung nicht gut und ahnt, wohin das führt.
Im zweiten Bild sucht Paul nach Marietta und muss mit ansehen, dass sie eine Affäre mit Frank hat. Er lässt sich beleidigen und ist dennoch machtlos gegen ihre Sinnlichkeit und sein Begehren. Die nächsten Szenen stehen ganz im Zeichen des Lebens. Die ausgelassene Theatertruppe springt durch den Zuschauerraum, lacht, albert und mischt die tote Stadt auf. Lust, Freizügigkeit und Sex schockieren Paul, der ihnen bei der Theaterprobe zusieht. Auch Fritz, einer der Gaukler, ist seiner „Königin“ verfallen. „Mein Sehnen, mein Wähnen“ offenbart seinen Gemütszustand. Orchester und Chor im Hintergrund – wie in vielen Szenen – begleiten diese wunderbare „Schnulze“. Doch hier ist kein Raum für Sentimentalität. Die Gruppe fläzt am Boden, trinkt Sekt, futtert Käse und Trauben aus der Plastikpackung und probt dann orgiengleich im vollbesetzten Bett die Auferweckung einer toten Nonne. Im Hintergrund läuft ein Video: Paul und die schwangere Marie haben einen Autounfall… Er verachtet Mariettas Treiben und erklärt ihr, dass er sie nur wegen ihrer Ähnlichkeit mit der Toten begehrt. Das kränkt sie und sie versucht mit allen Mitteln, um ihrer selbst geliebt zu werden.
Im dritten Bild gestalten sich die Szenen immer surrealer. Marie und Marietta treffen aufeinander. Sie beschwört die Tote, loszulassen und zerreißt ihr Bild. Ein Kinderchor mit Puppen im Arm zieht vorbei. Sie sind Teil einer Prozession der Gläubigen. Paul ist ergriffen, zündet Lichter an. Marietta lässt das kalt. Paare mit einem Kind auf dem Arm schweben ein, dann Brautpaare, die Marie und ihn für die Hochzeit kleiden. Marietta will diesem Wahnsinn ein Ende bereiten, raubt das Haar der Toten und führt ein Spotttheater auf. Sie verhöhnt ihn wegen seiner Lust. Schuldbewusst, verzweifelt und wütend erwürgt er sie. Nun bettet er beide Toten nebeneinander. Im Tod gleichen sie sich ganz. Auf diese finale Eskalation steuern Handlung und Musik mit einer Intensität zu, dass man atemlos, mit Herzklopfen von Szene zu Szene mitgerissen wird. Fassungslos verfolgt man dieses hinreißende Schauspiel und die großartigen Stimmen beider Protagonisten. Und am Ende? Die Bühne dreht sich weiter – Paul liegt auf der Couch, erwacht und hat alles nur geträumt. Brigitta kündigt eine Dame an, die ihren vergessenen Schirm holen wolle. Frank möchte Brügge verlassen und den Freund mitnehmen, vergeblich. Mit Wehmut singt er ein letztes Mal: „Glück, das mir verblieb“. Wie zu Beginn endet die Oper mit einem Film: Man sieht ein riesiges Kornfeld – eigentlich schön. Ein Mann läuft weit hinein, verschwindet fast, zückt eine Pistole und schießt sich in den Kopf.
Paul geht währenddessen von der Bühne durch den Zuschauerraum hinaus. Nichts ist gut am Ende dieses Seelenstriptease und bohrende Gewissheit, dass nicht jeder über den Tod eines geliebten Menschen hinwegkommt, bleibt.
Korngolds Musik ist unwiderstehlich packend und hochemotional, ständig im Fluss, ein Wellengang mit Schaumkronen und Tälern. Schon jetzt zeigt sich seine Prädestination, Filme zu orchestrieren, nicht zur Untermalung, sondern gleichrangig mit Handlung und Inhalten. Dass die Sängerinnen und Sänger nicht untergehen, ist dem Dirigat Chin-Chao Lins und einer charismatischen Hofkapelle zu verdanken, die in höchster Professionalität und Empfindsamkeit die Hauptrolle spielt. Nuancenreich, pointiert und höchst dynamisch vermag sie mit expressionistischer Klangwucht, aber auch innig und geschmeidig dieses Seelendrama zu führen. Einfach fabelhaft! Musikkritiker neigen stets dazu, Neues zu sezieren und auf Elemente bekannter Komponisten hinzuweisen. Selbstverständlich war Korngold Schüler seiner Zeit und beeinflusst von Mahler, Richard Strauss und Puccini. Auch jeder Autor verwendet das ABC und erfindet es nicht neu. Aber der Facettenreichtum dieser Oper zeigt das Genie, alle Genres so passgenau zu platzieren, dass ein Original-Korngold entsteht.
Die Partien Pauls und Mariettas gehören zu den anspruchsvollsten der Opernliteratur und Charles Workman vollbringt diesen unglaublichen Kraftakt bravourös und hingebungsvoll. Er lebt diesen leidenden, psychopathischen Paul und seine Zugewandtheit zu beiden Frauen wirkt so realistisch, dass man hier mehr als Oper erlebt: großes Kino. Lena Kutzner springt in die Rolle der Marietta mit Brillanz und Professionalität. Sie ist als Gegenpol zu Marie lebenslustig, provokant, liebevoll, verletzend und verrucht. In ihrer vollkommenen Harmonie mit Handlung und Personen gehört sie zur Starbesetzung. Auch die Nebenrollen sind exzellent besetzt. Deniz Yetim singt die Partie der Marie mit einer gruseligen Intensität, die Gänsehaut erzeugt, die fast Heilige, Reine, die ihren Mann nicht loslässt. Tamta Tarielashvili verleiht Pauls Haushälterin Brigitta mit einer beeindruckender Stimme Persönlichkeit, sodass es fast schade ist, sie nur in wenigen Szenen zu erleben. Gleiches gilt für Tomasz Wija als Frank, der souverän und sonor einen Ruhepol darstellt. Johannes Mooser darf als Fritz seine sensible Seite zeigen und lyrisch geschmeidig von seiner Liebe zu Marietta singen: zauberhaft und bewusst übertrieben. Pfiffig, quietschlebendig und stimmlich einfach hervorragend mischt die Gauklertruppe die Traueratmosphäre auf.
Großes Kompliment an Monika Reinhard, Marianne Schechtel, Rafael Helbig-Kostka und Stan Meus. Auch wenn der Chor kaum zu sehen war, war er doch im Hintergrund stets präsent und die Kinderchöre am Ende der Oper waren eine gelungene Überraschung. Wolf Gutjahrs Bühnenbild mit fünf Kammern, entsprechend der fünf Buchstaben MARIE, besteht aus überwiegend schwarzen Räumen und rotiert in unaufhaltsamer Dynamik wie die Gedanken und Gefühle in Pauls Kopf. Das erschließt sich dem Zuschauer wohl erst im Nachhinein. Schwarz ist die omnipräsente Farbe, aber wenn das Leben nach Paul greift, kommt Farbe ins Spiel. Katharina Weissenborn unterstreicht mit schwarzen und weißen Kostümen Inhalt und Kulisse und verpasst den Statisten und Chören ungewöhnliche Details.
Korngold gab sein Debüt in Meiningen. Standing Ovations, nicht endender Applaus quittierten diesen großen Erfolg.
Inge Kutsche, 19.9.22
Fotos (c) Christina Iberl