Konzert am 12. Januar 2022
Meininger Hofkapelle, Leitung: Mario Venzago
Johann Sebastian Bach: Toccata und Fuge d-Moll BWV 565 arr. von Leopold Stokowski
Rudolf Kelterborn (1931-2021): Traumland (2019), Uraufführung
Johannes Brahms: Sinfonie Nr. 4 e-Moll op. 98
Uraufführungen sind immer etwas Besonderes und in der Tradition der „Meininger Hofkapelle“ Usus. Wenn „Traumland“ von Rudolf Kelterborn wirklich das erste Mal gespielt wird, denkt man bei Brahms‘ 4. Sinfonie doch eher an Bekanntes und erst recht bei Bachs Toccata und Fuge in d-Moll. Weit gefehlt. Dirigent Mario Venzago empfindet Tradition als ein „Hindurch- und Weitergehen, nicht als ein Stehenbleiben“, das wäre museal. Nur so bleiben Vermächtnisse lebendig und zeitgemäß. Deshalb erklingt unter seinem Dirigat die 4. Sinfonie von Johannes Brahms ganz anders als die hier vor 137 Jahren uraufgeführte. Erst mit 60 Jahren begann er sich diesem Komponisten zu widmen, dessen Musik er als perfekt empfindet. „Es ist etwas ganz Reines in ihr, das dünner, durchsichtiger und flexibler ausgerichtet werden muss.“ Er löst das starre Korsett der üblichen Herangehensweise. Nimmt Wucht und Schwere zurück und verzichtet weitgehend auf pathetische Effekte. Statt sinfonischem Einheitsbrei werden Instrumentengruppen viel klarer und sensibler herausgearbeitet. Sie erzählen eine Geschichte, blitzen auf, schwellen an, verklingen. Weit deutlicher als in bisherigen Interpretationen fließt immer wieder die Anfangsmelodie ein, oft nur im Ansatz. Diese Vierte wird auch die „Elegische“ oder die „Traurige“ genannt – zu Unrecht. Eigentlich müsste man sie die „Spannende“ nennen, weil man nie ahnt, was jetzt kommt. Wiegend, einschmeichelnd beginnt der 1. Satz ohne Einleitung mit dem anrührenden Thema, das in Variationen von Streichern und Bläsern einprägsam fesselt. Schon jetzt ist Spannung da, die bis zum Finale bleibt. Tempi und Lautstärke wechseln. Seitenmotive tauchen auf und verschwinden. Der 2. Satz als Andante moderato wirkt getragen, zart und einfühlsam, aber nicht langweilig. Das unaufhaltsame Voranschreiten, der markante Wechsel von Pizzicato, lichten Querflöten, Holzbläsern und wieder Streichern gönnt keine Pause. Der temperament- und schwungvolle Beginn des 3. Satzes vermittelt vordergründig Heiterkeit, gar quietschvergnügte Lebensfreude – Brahms brütete dieses Werk während eines Sommerurlaubs in der Steiermark aus – und dennoch braut sich Bedrohliches zusammen. Kontrabass, Triangel und Querflöte unterbrechen den Duktus zum Finale nur scheinbar. Das Tempo steigert sich. Im 4. Satz schlägt Brahms überraschend einen Bogen zur Barockmusik. Themen Bachscher Kantaten klingen an, aber dennoch gehen variierende rhythmische Akzente, Pauken, Querflötenintermezzi und Streicherpassagen einen neuen Weg, der sich von der klassisch-romantischen Generation verabschiedet. Mario Venzago ist ihm dabei der ideale Weggefährte.
Gerade die bekannteste Toccata von J.S. Bach aufs Programm zu setzen, und noch dazu nicht als Orgelwerk, sondern für Orchester, lässt die Gralshüter der Originalkompositionen erst einmal die Nase rümpfen. Leopold Stokowski aber gelang es, in einem monumentalen Klangwerk Bach Tausenden von Menschen nahezubringen. Als Chef des Philadelphia Orchestra verfügte er nicht nur über das beste, sondern auch das größte Orchester der Welt. Während der Komponist im Original keinerlei Hinweise auf Tempi und Modi hinterließ, enthält bei ihm auf der Suche nach dem perfekten Klang jeder Takt Anweisungen, Akzente, verrückte Ideen. Es ist Hypermanierismus und so trickreich komponiert, dass es nur von ganz virtuosen Spielern zu bewältigen ist. Dirigent Mario Venzago geht ganz nach dieser Partitur vor, vergisst Bach und Barock, Toccata und Fuge und lässt sich von dieser Klangfülle und dem Fluss der Emotionen überwältigen. Sein Esprit, seine Wärme und Herzlichkeit, seine Beseeltheit und Brillanz wirken ansteckend auf die ohnehin hochmotivierte Meininger Hofkapelle, wenn er diese höchstmögliche Klangvielfalt in all ihrer Opulenz, aber auch Zartheit so wirksam zelebrieren lässt. Streicher in dramatischem Drive, mitreißend, erzeugen Gänsehautfeeling, die Harfe gluckst wie ein Gebirgsbach, Flöten übernehmen, Fagott schafft ein Plateau, Blech schmettert und dann wieder tutti, dass es unbestreitbar ist: Die reine Orgelversion ist dagegen fast langweilig. Bach in dieser Form, in dieser Fülle, geht weiter, tradiert Tradition.
Was will der durchschnittliche Konzertbesucher? Behaglich im festlich-feierlichen Ambiente Altbewährtes, Bekanntes erleben, das ihn zum Kenner kürt, perfekte Arrangements und meisterhafte Interpreten? Oder ist da etwa auch Lust, sich auf etwas völlig Neues einzulassen, ohne von vorneherein skeptisch zu sein? Der Titel „Traumland“ von Rudolf Kelterborn erweckt vermutlich gewisse Erwartungen einer Fantasiewelt, die sich jeder anders vorstellt. Das Orchester hat schon eine spannende Probenwoche hinter sich, um sich in diesem Kosmos zurechtzufinden. Und auch dem Publikum helfen die Hinweise, wonach es nicht suchen soll: Zusammenhang. Achtung: „Das Stück geht nicht unter die Haut, Emotionen bleiben außen vor.“ Die Tonsprache ist dicht, teils stürmisch abstrakt, nicht rational erklärbar. Bevor man sich in einer Melodie, einer Tonfolge einnisten kann, ist sie schon wieder verklungen. Höchste Konzentration ist gefragt. Kelterborn zerlegt Gedichte von Georg Trakl in Fragmente: Sätze, Wörter, Silben, die den sechs Sängerinnen und Sängern eingeschrieben werden: „Über dem weißen Weiher sind die Vögel fortgezogen …“, „… am Abend weht von unseren Sternen eisiger Wind …“, „… der rote Ahorn rauscht …“, „… durch schwarzes Geäst tönen schmerzliche Glocken …“, „… auf das Gesicht tropft Tau …“, „… silbern erblüht die Blume des Winters …“, „… es dröhnt gewaltig die Glocke im Tal …“, „… Flammen, Flüche stürmt den Himmel …“, „… die Liebenden blühen den Sternen zu …“ – Die Musik ist nicht tonal, sondern atonal, es gibt keine Tonleiter, keine Dominante, aber es ist keine Zwölftonmusik. Stöhnen bei diesen Angaben schon manche gequält? Bestimmt. Doch weil Mario Venzaga so offen und sympathisch erklärt, was dem Zuhörer bevorsteht, ist das Eis schon gebrochen. Und ist nach dieser wegweisenden Einführung nicht etwas Neugier entstanden? Man weiß jetzt, worauf man sich einlassen kann: auf instrumentale und vokale Fragmente.
Klangmomente: bedrohlich, schrill, glitzernd und klagend, Gluckern, Quietschen, Lispeln, Rauschen, Klopfen, ein Gong, Saitenklänge, Pizzicato. Kontrabässe befeuern, Triangel erklingt schüchtern, zaghafte Streicher dehnen den Moment. Längst konzentriert man sich ganz auf die einzelnen Instrumente, nimmt sie in ihrer Solitärfunktion ganz anders wahr: das Fagott, die Pauke, die Harfe, den Buckelgong. Viele Pausen erhöhen den Effekt. Von den sechs Sängerinnen und Sängern tönen aus dem Hintergrund die Gedichtfragmente: mal einzeln, mal versetzt, zu zweit oder in wildem Durcheinander. Das wirkt verstörend. Es ist totenstill im Saal, man vergisst zu atmen, es ist ungemein spannend und manch einer ist verblüfft, was man sich zumuten kann. Wenn Kelterborn in einem Interview bekannte, dass seine Musik durch die oft unerträgliche Spannung zwischen Schönheiten dieser Welt und den unerhörten Möglichkeiten einerseits und den Ängsten und Schrecken unserer Zeit andererseits bestimmt wird, versteht man dieses Werk in der momentanen Situation umso mehr. Gewiss, das Stück ist keine „Kleine Nachtmusik“ zum Dauerkonsum, aber „Traumland“ erweitert unseren Horizont und die Wertschätzung der Dirigenten und Musiker, die bereit sind, neue Wege zu gehen. Eigentlich wollte Rudolf Kelterborn dieser Uraufführung selbst beiwohnen. Im März 2021 starb er im 90. Lebensjahr. Mario Venzago hat sein Vermächtnis verantwortungsvoll, einfühlsam und brilliant erfüllt. Glücklich und erleichtert verneigt er sich am Ende vor der Meininger Hofkapelle und einem begeisterten, tief beeindruckten Publikum.
Inge Kutsche, 15. Januar 2022
Foto: (c) Michael Reichel