Musikalische Leitung: GMD Philippe Bach
Regie, Bühne, Kostüme: Markus Lüpertz
Premiere am 10.12.2021
So wie in der Vorweihnachtszeit in himmlischen Werkstätten, Backstuben und heiligen Hallen Christkind Spielzeug, Gebäck und Klangvolles herstellen lässt, scheint in Meiningen etwas Ähnliches im Gange zu sein. Die Neugier ist groß. Gleich mehrere Tage nehmen sich Journalisten der „Süddeutschen“ Zeit für eine Reportage, MDR und ORF führen Interviews und drehen vor Ort. Die regionale wie überregionale Presse, aber auch die Liebhaber des Theaters, fiebern einem Ereignis entgegen, das andere Opernhäuser neidisch werden lässt: Markus Lüpertz inszeniert „La Bohème“, gestaltet Kulissen und Kostüme und führt tatsächlich selbst Regie. Er traut sich das zu, schließlich ist er, O-Ton, ein Genie. Er hat Glück, im Meininger Intendanten Jens Neundorff von Enzberg nicht nur einen Freund, sondern mit ihm ein Theater gefunden zu haben, das ihm diesen Traum ermöglicht. Seit knapp zwei Monaten arbeitet das Haus mit Hochdruck an diesem Gesamtkunstwerk. Lüpertz ist in erster Linie Maler und will ein Bild zum Klingen bringen. Die Sänger und Sängerinnen sind Farben, die singen.
Das Schauspiel reduziert er auf ein Mindestmaß, zu viel Bewegung lenkt nur ab. Nah am Bühnenrand positioniert, nach vorne gewandt, soll die Schönheit des Gesangs ins Publikum fluten. Dass das Ensemble für ihn Weltklasse hat, ist kein leeres Kompliment. In dem erfahrenen kongenialen Co-Regisseur Maximilian Eisenacher findet er seinen „Scout“, ein Glücksgriff, der seine Ideen tatsächlich bühnentauglich umsetzt. Auch Ruth Groß, eine erfahrene Bühnen- und Kostümbildnerin, gehört zum Team und arbeitet die Entwürfe des Künstlers so aus, dass sie Bühnenreife bekommen. Und Markus Lüpertz steht täglich im Malsaal, stundenlang, gestaltet Wände, Pappaufsteller und Kostüme, ist bei allen Proben dabei, er arbeitet hart, verträgt Kritik, geht darauf ein, schläft schlecht und dann ist er da, der Tag der Premiere.
In vier Bildern verdichten sich die Ereignisse um die vier brotlosen Künstler und Mimi und Musetta. Vor dem Ersten, Zweiten und Vierten wird je ein Prolog, den Markus Lüpertz selbst spricht, eingespielt: Expressionistische Lyrik, Satzfetzen, die nicht im Zusammenhang verstanden werden wollen, vor einem monumentalen Gemälde mit den Köpfen der Protagonisten.
Im ersten Bild, es ist Heiligabend, frieren der Maler Marcello und der Dichter Rodolfo in ihrer kalten Dachwohnung und verheizen deshalb dessen Manuskript. Die Einrichtung, Ofen, Stühle, Sofa, Staffelei und Wände sind zweidimensionale Bilder, Pappaufsteller, nichts ist heimelig, alles wirkt düster. Ganz anders die Kostüme. Alle tragen mit groben Pinselstrichen bunt bemalte Kleidung, übergestülpte ärmellose Hänger, kuriose Hosen und typische Kopfbedeckungen, auffällige Krägen. Fast komisch, harlekinhaft, grotesk geschminkt symbolisieren sie die Lebenskunst der Bohèmiens, die trotz widrigster Umstände dem Augenblick etwas Gutes abgewinnen können. Der Philosoph Colline und der Musiker Schaunard, der als einziger etwas Geld verdient hat, kommen dazu und alle beschließen, später in ihre Stammkneipe, das „Momus“, zu gehen. Nachdem sie den Vermieter Benoît, der eigentlich kassieren wollte, betrunken gemacht haben, bleibt Rodolfo noch daheim, um einen Artikel zu schreiben. Die anderen ziehen schon los. Mimi, die kranke Nachbarin, erscheint und bittet um Feuer. Beide kommen sich näher und verlieben sich. Alex Kim als Rodrigo erobert mit „Che gelida manina“ nicht nur Mimi, sondern die Herzen des Publikums und wenn Deniz Yetim Mimis Arie „Si, chiamono Mimi“ so innig und berührend singt, zerreißt es einem fast das Herz.
Natürlich sind das Gänsehautarien, natürlich kann man denken, Puccini läuft von alleine, aber beide brillieren in so vollendeter Harmonie und einer solchen Stimmvielfalt und Ausdruckskraft, dass es wirklich nicht verwundert, dass Herr Lüpertz zutiefst von den Meininger Größen beeindruckt ist.
Farben singen tatsächlich im zweiten Bild. Ganz in Giftgrün, mit roten Haaren oder Kopfbedeckungen, eine Kerze in den Händen, steht im Hintergrund der Chor in Tannenbaumformation. Im Vordergrund schräg und abstrakt die Kulisse des „Momus“, wo sich die Freunde treffen. Rodolfo erzählt allen von seiner Liebe, Mimi bekommt von ihm ein Hütchen und Marcello, Julian Younjin Kim, ist alles andere als glücklich, als er seine ehemalige Geliebte mit ihrem reichen Liebhaber sieht. Monika Reinhard mit roter Lockenmähne verkörpert die leichtlebige, leicht verruchte und kesse Musetta so individuell typisch, kokettiert und bewegt sich doch etwas mehr, als vielleicht der Regie lieb ist. Aber es passt!! Sie hat Esprit, Temperament und Herzenswärme, was sie später im 4. Bild so impulsiv und tröstlich vermittelt. Monika Reinhard eben!! Und singen, keine Frage, das kann sie auch, und wie. Die Meininger lieben sie. Thomas Lüllig als Alcindoro schämt sich für ihr frivoles Auftreten und mimt den Gehörnten perfekt, der hilflos mit ansehen muss, wie sie ihre Spielchen mit ihm treibt und am Ende die ganze Zeche noch bezahlen muss. Sie aber liebt Marcello immer noch, auch wenn er arm ist.
Im dritten Bild erscheint Mimi in bizarr düsterer Vorstadtszenerie, sie friert und es schneit. Sie sucht Marcello in einem Gasthof auf, um mit ihm über Rodolfos quälendes Verhalten zu reden. Ein überdimensionales, totenkopfähnliches Vogelgesicht lenkt die Fantasie des Betrachters auf das, was kommen wird. Der Geliebte will sich von ihr trennen, nicht weil er sie satt hat, sondern weil ihm die Mittel fehlen, ihr Leid zu lindern. Während Mimis zartes „Addio“ verklingt, streiten Musetta und Marcello im Hintergrund, weil sie ständig mit anderen Männern flirtet und sie trennen sich. Rodolfo und Mimi beschließen, doch noch bis zum Frühling zusammen zu bleiben.
Der Sinn des Prologs zum vierten Bild erschließt sich kaum, soll er auch nicht, Expressionismus eben, der keiner Interpretation bedarf. Die vier Freunde leben wieder als Junggesellen zusammen. Johannes Mooser als Musiker Schaunard ist immer für einen Spaß zu haben, er muntert die anderen auf und bildet mit Selçuk Hakan Tıraşoğlu als Philosoph Colline ein Gegengewicht zu den anderen in ihrem Liebeskummer. Als Musetta plötzlich erscheint und Mimi mitbringt, der es inzwischen immer schlechter geht, verkaufen die Freunde ihr letztes Hab und Gut, um für sie einen Arzt, Medizin und einen Muff zu besorgen. Rodolfo und Mimi bleiben alleine zurück, die Musik birgt alle Emotionen glücklicher Erinnerungen an ihre erste Begegnung.
Er ist verzweifelt, aber gefangen in seiner Unfähigkeit zu echtem Mitgefühl und Nähe und sie akzeptiert das in ihrer bedingungslosen Liebe. Musetta ist die einzige, deren Mimik und Haltung Herz beweisen, als sie ihr noch einen Muff bringt. Außergewöhnlich: Lüpertz lässt Mimi im Stehen sterben. Alle wenden sich ab und erstarren.
Und am Ende? Verzeiht man Markus Lüpertz die Kasperlkostüme, die schrägen, krakeligen und manchmal verstörenden Kulissen? Der Jubel, der aufbraust, als Deniz Yetim, Alex Kim und die anderen Sänger sich beim Schlussapplaus vor dem Publikum verneigen, die Bravorufe, die Standing Ovations, als Jens Neundorff von Enzberg GMD Philippe Bach zuruft: „Du bist Puccini“, zeigen: Da ist ein Gesamtkunstwerk gelungen. Ohne so ein großartiges Orchester, ohne so ein Weltklasse-Ensemble, ohne so einen perfekten Theaterapparat hätte Markus Lüpertz sein Bild nie zum Klingen gebracht.
Das Medieninteresse war vorher schon groß, wie wird jetzt erst die Resonanz nach so einer außergewöhnlichen Operninszenierung ausfallen?
Inge Kutsche, 12.12.21
Bilder (c) Christina Iberl, Jochen Quast, Marie Liebig