Nürnberg: „Kylián / Goecke / Montero“

Premiere: 13.4. 2019

Worum geht’s? Um einen Begriff, der seit etlichen Jahren für erregte Diskussionen sorgt: um „Gender“. Was er objektiv bedeutet, scheint den Diskutanten und Diskutantinnen unklar zu sein; Streitigkeiten über die Relevanz von Streitigkeiten über eben jenen Begriff und seine gesellschaftlich-sexuell-moralischen Auslegungen gehören offensichtlich zur Sache. Wenn Männer zusammen mit Frauen tanzen, haben wir es mit einer getanzten diskursiven Auseinandersetzung zu tun – vielleicht selbst dann, wenn wir so etwas (scheinbar!) Simples wie einen traditionellen „Schwanensee“ oder eine „Giselle“ betrachten, denn die Frage, wie sich Mann und Frau im Rahmen der gesellschaftlichen Konvention verhalten, wurde ja auch dort verhandelt, wo der Begriff noch gänzlich unbekannt war. Insofern könnte man es (fast) für einen Trick halten, drei unterschiedliche Choreographien dreier Choreographen, die gänzlich verschiedene Hand- und Fußschriften ihr eigen nennen, unter dem Oberthema „Gender“ zu vereinigen.

Tatsächlich ist der Fall etwas einfacher – und etwas komplizierter. Denn in der Konfrontation einer neuen Arbeit des Nürnberger Compagniechefs und Bühnzauberers Goyo Montero mit zwei älteren Arbeiten zweier renommierter Kollegen hat man auf ein so einfaches wie differenziertes Konzept gesetzt. Marco Goecke arbeitete mit gemischten Paaren, Jiri Kylián mit einer Schar von Frauen, und Montero liess eine reine Männergruppe auf die Bühne. Zusammen ergibt das ein stark kontrastives Terzett, in dem der Blick auf die Geschlechter jeweils andere Perspektiven erlaubt – und dies schon durch die pure Lichtregie: Stehen die scheintätowierten Tänzerinnen und Tänzer in Goeckes "Thin Skin" in einem kalten, meist blauen Licht, so hat Kylián seine Frauencompagnie in einen warmen Ton getaucht. Bei Montero gibt es, man erwartet es, alles: kühle Nachtfarben, glühendes Rot und schwarze, nur von schwachem Seitenlicht beleuchtete Finsternis. Montero ist, und wieder wundert man sich nicht, der einzige Choreograph, der seinen Tänzern den Ab- und Aufstieg in die Vertikale erlaubt: Vom Gleiten in einem Geburtskanal zu einer wie auch immer deutbaren Auferstehung. Die Musik markiert den nächsten Unterschied: Goecke kreierte ein Patti-Smith-Ballett, Kylián peitscht uns mit einem Perkussionsstück des Minimalisten Steve Reich fast in die Trance – und Montero bringt neben seinem Lieblings-Original-Komponisten Owen Belton Kompositionen von Jethro Tull, Miguel Poveda und Lou Reed. Sehr anders sind, natürlich, bereits die Gesten, auch wenn plötzlich Ähnlichkeiten ins Auge fallen: Goeckes Figuren bewegen sich so zackig wie, in aller Radikalität, auf seltsame Weise elegant über die Bühne, Kyliáns Frauen agieren so weich wie das Licht, das sie einhüllt und vorzüglich beleuchtet, Monteros Menschen bieten eine ganze Enzyklopädie von Bewegungsrhythmen auf.

Der einzige relevante Unterschied aber wird auf der Ebene der Kommunikation und der Emotion gestiftet: Goeckes Tänzerinnen und Tänzer bieten – zumindest nach meiner Meinung – wenig mehr als autistische Exercises auf hohem technischen Niveau, mag auch die Dramaturgenlyrik der Alexandra Karabelas im (ausgezeichneten) Programmheft davon schwärmen, dass Goecke sich „um UNS: um sein Publikum und um jene Menschen kümmert, die für uns und ihn gerade tanzen“. Tatsächlich zeigt die Wortwahl unbewusst an, dass es bei Goecke nicht um das zweite wesentliche Element geht: denn nur Tänzer, die sich bewusst sind, dass es (auch) um sie geht, können UNS vermitteln, dass sie eben für uns tanzen. Der Unterschied zu Monteros Choreographien, in denen das Verhältnis von Kollektiv und Individuum in jedem Moment ein lebendiges ist, macht klar, dass Goeckes Kunstfiguren mit ihren aus Abstraktion und einer seltsamen Heftigkeit gewirkten Körperfiguren einsame Gestalten sind – selbst dann, wenn sie nebeneinander stehen und parallele Gesten exekutieren. Die Musik der Patti Smith ist wenig geeignet, diesen Eindruck zu relativieren, mag man auch fasziniert sein von den Bewegungen des Wedelns, Schiebens, Klapperns, Schaufelns undundund. Nach einer Viertelstunde hat sich, aber das ist nur meine Meinung, der Reiz erschöpft.

Auch bei Kylián und seinen „Falling Agels“ spielt die Frage, wie sich das Individuum – in diesem Fall: die Frau im Zeitalter einer nicht gänzlich gelungenen Emanzipation – zu ihren Kolleginnen ins Verhältnis setzt. Kylián holt immer wieder aus seiner acht Tänzerinnen umfassenden Truppe eine heraus, stellt sie vor die Anderen, lässt sie als "Vortänzerin" ihre Soli machen, ohne dass man und Frau den Eindruck hätte, dass es hier um Einsamkeit und Autismus ginge. Im Gegensatz zu Goeckes Choreographie bewegt sich Kyliáns Arbeit passgenau auf den Grundrhythmus von Steve Reichs „Drumming“. Die Tänzerinnen arbeiten auch – und auch dies begegnet bei Kylián – mimisch, die Gesichter werden eingerahmt und verdeckt, die Frauen gehen zu Boden und versuchen sich zu erheben: ein Versuch, gesellschaftliche Rollenmuster mit dem Schein einer Turnstunde in Einklang zu bringen; der Versuch gelingt auf beeindruckende Weise.

Schliesslich Monteros „M“: ein erzählender Essay über die „Männlichkeit“, wieder ausgestattet mit komponierten Gedichten, diesmal mit zwei Texten des großen spanischen Lyrikers Federico Garcia Lorca und einem Song von Lou Reed. Männer werden als „Falling Angels“ auf die Welt geworfen, üben sich in kraftstrotzend-vitalen Ritualen – zu denen Jethro Tulls fröhliche Musik hervorragend passt -, geraten in Krisen (die inneren Einschläge kommen akustisch und körperlich beängstigend nah), die (Homo)-Sexualität gerät ins Blickfeld einer intoleranten Gesellschaft, die Gruppen formieren sich immer wieder neu – und schliesslich entfliegen die Männer in einem Coup de theatre gen Himmel: als aufsteigende Engel? Als "Erlöste"? Als Träumer? Vorher hörten wir so etwas wie einen fernen gregorianischen Choral…

Wieder hat uns Montero durch neue Bilder überrascht und verzaubert: Die wilde Horde in Blutrot, die Ascensione: so haben wir das noch nicht gesehen. Was bleibt, wird vielleicht eine bewegende, auch bewegend musikalisierte Zeile von Lou Reed sein: „Looking for a Kiss“.

Der Beifall des Publikums für die brillanten Tänzer und Tänzerinnen klang, nach jedem Teil, wie eine lange, leidenschaftliche Umarmung.

Frank Piontek, 15.4.2019

Fotos: © Jesus Vallinas