Vorstellung am 28.1.2020
„Wie kaum ein anderer Komponist im 19. und ausgehenden Jahrhundert hat Massenet für die Stimme komponiert.“ Es ist eine steile These, die Helmut Heissenbüttel, der sich als herausragender Experimentalautor auf Klang und Sprache verstand, 1985 im Münchner Programmheft zur „Manon“ veröffentlichte. Vielleicht stimmt sie ja, auch wenn vielleicht in den meisten Analysen, die der Oper gewidmet wurden, eher vom äußerst differenzierten Orchestersatz und der scheinbar kleinteiligen, in Wahrheit aber textgetreuen und psychologisch genauen Motivarbeit in Massenets Partitur die Rede ist. Dass das Glück einer Opernaufführung weniger von einer wie auch immer gearteten Inszenierung, sondern von den singenden Menschen gemacht wird, könnte glatt vergessen werden, wenn man sich manch Rezension anschaut. Doch auch im Fall der Nürnberger „Manon“ muss zunächst von den Sängern/Schauspielern geredet werden, die diesen Abend letzten Endes zu einem Triumph machen.
Manon also. Ihr Charakter changiert bei Massenet, über die Musik und die Figurenzeichnung ein- und gleichzeitig vieldeutiger als im Roman des Abbé Prevost angelegt, zwischen aufreizender Kokotte, naivem Mädchen und Opfer der Verhältnisse; das letzte Wort behält ihr musikalisch ergreifender Abschied: in Vorgriff auf Mimis Tod. Eleonore Maguerre kann das alles: vom unbeschwerten „Voyons, Manon, plus de Chimères“, mit dem sie am Anfang ihrer fatalen Emanzipation steht, über ihre berühmte Gavotte – die Kehle gurrt sinnbetörend – zum erhitzten Duett mit dem abgefallenen Liebhaber und schließlich zur letalen Erschöpfung. Die auf verzweifelte Weise lebenslustige Frau hat am Ende des drei Stunden kurzen, immer packender werdenden Abends nun wirklich keine Kreide gefressen. Beseelt war ja schon ihre Anfangsarie „Je suis encore tout étourdie“. Eine gute Manon muss gleichsam über mehrere Stimmen verfügen, um zunächst die begeistert Entflammte, dann, auf der Promenade des Cours-la-Reine, die Königin der Pariser Nacht zu spielen, indem sie sie singt; kommt hinzu der körperliche Einsatz, mit dem sie am Ende des Ball-Bildes, einer Danceshow-Queen gleich, im leuchtenden Kreis gen Himmel schwebt (aber der Himmel wird nicht nur an diesem Abend von der Decke begrenzt). Riesenbeifall also für Eleonore Maguerre, die ihrer Stimme, und scheinbar ohne Mühe, alle möglichen Töne zur Charakterisierung dieser vieldeutigen, halb gezogenen, halb ziehenden Frau entlockt. Nach ihrer Natascha in der in jedem Sinne erstklassigen „Krieg und Frieden“-Aufführung, in der Eleonore Maguerre eine bewegende Natascha sang, hatte man nichts anderes erwartet. Nicht nur ihre Haarfarbe und ihre Perücken und ihre mehr oder weniger extravaganten Kostüme (gute Arbeit: Silke Willrett) wechseln bewusst von Szene zu Szene: bis zum giftigen Grün der Todesstunde, in der sie ein T-Shirt mit dem bezeichnenden Schriftzug „Born my way“ trägt – aber vielleicht ist auch dieses Bekenntnis zu individueller Autonomie nur ein Irrtum der, pardon, letzten Endes „abgefuckten“ Frau.
Ihr Des Grieux heißt Tadeusz Szlenkier. Wieder singt er gelegentlich zu laut, und wieder muss man bemerken, dass er’s gar nicht müsste. Denn wohltönend „lagrimoso“ stattet er den ehrlichen Jungen aus: im Holzfällerhemd die Szene betretend, so viel Symbolismus müsste vielleicht nicht sein, aber gut. Nach seinem Don Carlos hat er seinem Repertoire und seiner kräftigen wie sensiblen Stimme eine neue Rolle angeschneidert, die seinem sanft dahinströmenden, voluminösen hellen Tenor gut passt: vornehmlich in den verzweifelten Passagen der Partie, die den Sänger von der Straße in die kleine Kammer führt, in der Manon auf unvergessliche Weise den kleinen Tisch, Symbol ihrer kurzen Idylle, ansingt. Wer den Mann sieht, der kurz davor steht, gleich ins Kloster zu gehen, weil ihn die Geliebte verriet, ahnt schon aus vokalen Gründen, dass der Übertritt nicht geschehen wird. Wenn er sich ins mörderische Getümmel der Spielbank im Hotel Transsylvanie stürzt, um schließlich zu einem letzten traurigen Duett mit der ihre Seele förmlich aushauchenden Geliebten findet, hat der Sänger einen Abend hinter sich gebracht, der ihn vollgültig neben die Titelfigur stellt.
Wer daneben steht, steht kaum im Schatten: Levent Bakirci singt einen optimal austarierten, baritonal charakteristischen Lescaut, bei dem freilich auch die (spezifische) Szene die vokale Figur macht, aber dazu später. Hinreißend bassdunkel und prägnant: Taras Konoshchenko als Vater Des Grieux. Hans Kittelmann singt und spielt den Guillot de Morfontaine, der das Paar schließlich ins Verderben schickt, mit körnigem Organ, also geradezu rollendeckend, und Richard Morrison ist in der relativ kleinen, aber wichtigen Rolle des Brétigny, der sich Manon einfach kauft, ideal besetzt, weil er auch schön, also gut fokussiert und deutlich zu singen vermag: bei aller Gemeinheit dieses Charakters. Nicht zu vergessen: das teuflisch schöne Terzett der drei Rheinnixen, pardon: der drei Grisetten Poussette, Javotte und Rosette, also Julia Grüter, Nayun Lea Kim und Paula Meisinger; dass Julia Grüter am deutlichsten hervorsticht, ohne das Trio vokal zu überblenden, ist für jene Zuschauer, die die Sängerin in einigen Hauptrollen bewundern konnten, natürlich wunderbar. Bleibt, neben dem erstklassigen Chor unter Tarmo Vaask, der (ceterum censeo: das ist ein grundsätzliches Problem der Akustik des Hauses) zu laut, aber klangschön und rhythmisch genau aufspielenden Staatsphilharmonie Nürnberg unter Guido Johannes Rumstadt und dem betont „sexy“ agierenden Ballett von Federgirls eine nicht immer stumme, von Massenet und seinen Librettisten Henri Meilhac und P.E.F. Gille nicht vorgesehene Figur, die den Abend, gleichsam als Faktotum des Teufels, vom ersten bis zum letzten Bild böse begleitet: Johannes Lang spielt diesen Diener / Pförtner und schleimig-räuberischen Mesner (des Klosters) / Croupier und Sergeant mit schön gezügelter Inbrunst.
Faktotum des Teufels? Der Teufel ist, wie schon bei Prévost, das Kapital, das wie ein Höllensaft in die Herzen und Hirne der Protagonisten dieser Oper hineinfährt. Eben deshalb scheinen die Damen im Etablissement in Amiens neckische Teufelshörnchenreifen zu tragen: gleichsam als gefallene Bunnys. Die Regisseurin Tatjana Gürbaca macht vom ersten Ton an klar, dass es in der Welt des „schönen Scheins“ und der „Koketterie“, in der die Frauen von der finanziellen Gunst der Männer abhängig sind, nichts zu beschönigen gibt. Sex, Drogen und Gewalt im Rotlicht-Milieu: so beginnt es, und im Knast, in dem die Kerle sich noch an der Sterbenden buchstäblich reiben, endet die Geschichte. Gürbaca inszeniert also in einer Eindeutigkeit, die die Oper über weite Teile brutalisiert, während die Arbeit des Komponisten und seiner Librettisten wesentlich diskreter vorgeht, wenn es die Gewalt der von den Menschen gemachten Verhältnisse beschreibt. Sie bietet, hinter einem von Marc Weeger entworfenen, zugleich abstrakten und bedeutenden dreifachen Lichtkranz, die Geschichte des 18. Jahrhunderts, die zugleich als Histoire aus der Epoche Maupassants und Prousts, aber nicht umstandslos als unsere Geschichte gelesen werden kann, „im Lichte unserer Erfahrung“ (wie es bei Thomas Mann heißen würde). Mit dieser unoriginellen und ästhetisch nicht mehr aufregenden und zum Nachdenken anregenden, wenn auch gerade noch möglichen Umdeutung aber beginnt die Inszenierung nur einseitig: mit einem Cousin Lescaut, der die anvertraute Verwandte nicht ins Kloster, sondern als Prostituierte über eine von Wachsoldaten bewachte Grenze (Mexiko??) schickt, bevor er sich selbst ins SM-Gewand schmeißt, wenn er beim Pärchen aufkreuzt. Natürlich wird Des Grieux zusammengeschlagen, man hat es erwartet.
Das alles wäre (immerhin) fragwürdig, wären da nicht auch die intimen Momente. Gürbaca gönnt ihren traurigen Helden jene lyrischen Ruhepunkte, die erst den Kontrast – und den Rang – dieser Oper ausmachen. „Lasst uns dem Ruf der Liebe folgen“: Wenn Manon nach einem Freezing im Ballbild diese Aufforderung den käuflichen und gekauften Damen ins Gesicht sagt, begreift man es nur, weil man vorher gesehen und gehört hat, wie das Gegenteil aussehen könnte: befreit von den Interessen, die das Kapital zu provozieren vermag. Nebenbei: in der sexuell glamourösen Szene klingt eine Musik an, die auffallend an einen Csárdas von Johann Strauss erinnert. Mit dem unglaublich glitzernden Unterkostüm wird Manon dann in der nächsten Szene ihren Geliebten zurückholen, doch nur, damit er sich im Spielsalon ins Russische Roulette wirft.
Man könnte also mutmaßen, dass die Inszenierung zwar meist am Text bleibt, indem es das Kapital als Motor des Bösen mit heutigen Bildern zeichnet, aber denn doch nur mit den üblichen Vereindeutigungen und Brutalisierungen aufwartet. Dem ist jedoch nicht so. Nach der Pause nämlich, die vor der Klosterszene platziert wurde, nimmt der Zug der Verdammten noch einmal richtig Fahrt auf. Vom St. Sulpice-Bild bis zum Finale wölbt sich ein musikalisch-dramaturgischer Bogen, in den die inszenierten Brutalitäten ihren guten Platz haben; das Hotel Transsylvanie-Bild gerät zum äußeren Höhepunkt. Pech also für alle, die es vorzogen, in der Pause das Opernhaus zu verlassen: Sie haben einen sehr spannenden, mätzchenlosen und bewegenden zweiten Teil verpasst, der einige Überakzentuierungen und Umdeutungen des ersten Teils vergessen ließ.
Starker Beifall also für einen Abend, in dem Massenets, Meilhacs und Gilles Meisterwerk denn doch zu seinem Recht kam. Empfehlung: Hingehen – denn häufig wird „Manon“ bekanntlich nicht gespielt.
Frank Piontek, 29.1. 2020
Fotos: © Ludwig Olah