„Worum geht es denn?“, fragt die junge Dame neben mir. Schulplatzmiete, so heißt das in Nürnberg, also Schüler-Abo. Nicht alle Mädels und Jungs haben Erfahrung mit dem gegenwärtigen Tanztheater, manche sind gar das erste Mal dabei, das macht ja nichts. Hat man eben einen völlig unbefangenen Blick auf die Meisterkreationen der unmittelbaren Tanz-Moderne.
Worum es geht? Das sagt sich nicht, wie es bei Wagner so schön heißt, ich kann die beiden jungen Frauen da beruhigen. Nein, es geht nicht darum, eine Geschichte zu „begreifen“, nacherzählen kann man diese Art des Balletts eh nicht, soll man auch nicht. Insofern reicht es, mit Stephanie Lake darauf hinzuweisen, dass es, bei ihr, ein bisschen wie bei den anderen beiden Choreographien, um „Tempo und Komplexität“, um „ein visuelles Kaleidoskop menschlicher Erfahrungen“, um „Beziehungen, Herzschmerz, Euphorie“ und, in ihrem speziellen Fall, auch um „die Monotonie des Alltags“ geht. Das braucht zwar genaue Bilder, aber keine in Worte übersetzbare Handlungen. Die Hauptsache ergibt sich eh aus dem Gesehenen – und Gefühlten; bewusste wie unbewusste Erinnerungen an die eigene Wirklichkeit mögen da nicht ausbleiben.

Mit seiner vorletzten Premiere am Nürnberger Haus hat der Compagnie-Chef Goyo Montero wiederum drei Choreographien gekoppelt, von denen eine – die mittlere – von ihm selbst erarbeitet wurde. Dass er im Titel an letzter Stelle erscheint, mag seiner Bescheidenheit zu verdanken sein, denn die Abfolge müsste „Bonachera / Montero / Lake“ lauten; vielleicht hat man die Reihenfolge auch nur verändert, weil der Rhythmus besser skandiert werden kann – und Rhythmus ist bekanntlich auch und gerade beim Ballett ein A und O. Rhythmus – und absolute Körperbeherrschung. Das ist trivial, aber man merkt‘s von Neuem, wenn die Tänzerinnen und Tänzer in Rafael Bonacheras Lux in Tenebris eine schier unfassbare Virtuosität an den Tag legen. „Licht in der Dunkelheit“: Worum geht es denn? Um, wie Bonachera über seine Choreographie sagt, die er zuerst für die Sidney Dance Company kreierte, um „jene menschlichen Begegnungen, die uns umgeben, wenn sie in den Fokus und ins Licht treten, um dann wieder in den Schatten zu verschwinden – mal geblendet vom direkten Licht, mal seitlich in die Grenzbereiche des Schattens tretend“. Das Licht spielt eine Hauptrolle, die 22 Mitglieder des Ensembles sind allesamt prima inter pares, auch wenn, um nur zwei Namen stellvertretend zu nennen, Jade Diouf und Lucas Axel in einem intimen pas de deux als ungewöhnlich auffälliges wie bezwingendes Paar auf die Sinne der Zuschauer wirken. Denn jede Tänzerin und jeder Tänzer dieser Weltklasse-Compagnie könnte Gleiches vollbringen: auf höchstem technischem Niveau, mit extremer Körperspannung und künstlerischer Integrität Soli, Pas de Deux‘, Quatres etc. tanzen, in welchem Tempo auch immer. Man steht wie selbstverständlich auf dem Kopf, rollt in Zeitlupentempo übereinander und rennt in atemberaubender Geschwindigkeit von beiden Seiten diagonal über die Bühne, ohne zusammenzustoßen (allein dies ist eine Leistung). Manches, Weniges sieht ein wenig aus wie von Montero adaptiert, aber bei allen äußersten Ähnlichkeiten ist die Handschrift Rafael Bonachelas unverwechselbar. Seine Choreographie ist sportiv, ohne zum Sport-Ballett zu gerinnen, von fern gymnastisch, ohne zur Gym-Show zu degenerieren. Er bringt Liebe und Hass auf die Bühne – und entzieht sich doch dem Zwang zu einschichtigen Interpretationen. Er zeigt in seinem Menschen-Bildertheater menschliche Begegnungen – und lässt deren Deutung bei aller Deutlichkeit offen. Das Unklassische dieses Ansatzes liegt nicht zuletzt in der Idee, dass alle Begegnungen flüchtig sind, ja: keine ausdauernde Nähe zulassen, und doch bezaubern die Tänzer mit einem denkbar diversen Bewegungsrepertoire. So entwickelte Bonachera mit dem Licht-Designer Benjamin Cisterne und dem Lichtrealisator Christian van Loock eine Lichtregie, die die Tänzer unter den Glühlampen zunächst für ein paar kostbare Minuten wie blitzlichtartig im sehr abgetönten Helldunkel erscheinen lässt, in dem sie ihre schnellen und geheimnisvollen Begegnungen fragmentarisch erleben, bevor sie kurz zu Lebenden Bildern einfrieren. Sie tanzen zu Nick Wales‘ impressivem, hämmerndem und naturgeräuschhaftem Sound, im scharfkantig-warmen Caravaggio-, dann im braunen Rembrandt-Licht, das aus dem „leeren“ Raum einen belebten macht. Sie tanzen mit einer enormen Geschwindigkeit, treffen sich kurz und heftig, sprinten auseinander und treffen sich zu zweit, zu dritt, zu viert, in der Gruppe wieder. Der Rest ist ein Rennen, ein Verfolgen und zugleich ein Davonlaufen in der gekreuzten Diagonale. Nach 40 spannenden wie kurzweiligen Minuten tost ein Beifall auf, wie man ihn selbst beim Nürnberger Ballett nur selten vernimmt. Wie nennt man das? „Mystisch, geheimnisvoll“ (O-Ton in einem Pausengespräch).

Danach hat es selbst Goyo Montero ein wenig schwerer als sonst, doch der Kontrast im Ähnlichen ist bannend. Tilt , uraufgeführt von der Compagnie des Staatsballetts Hannover, dessen Chef er demnächst wird, Tilt bezieht sich auf den Kontrollverlust, nicht allein beim Pokerspiel. Figuren werden wieder diversen Angriffen ausgesetzt, zunächst werden einzelne Individuen gleichsam bearbeitet, die Gestalten zucken wieder unaufhörlich, dann dürfen sie zeigen, um es mit den Bayreuther Anarchisten Max Stirner und Richard Wagner auszudrücken, wie der Einzige unter ekstatischen Zuckungen sein Eigentum verliert, was nicht auf den finanziellen Verlust beim Pokerspiel bezogen werden darf. Monteros Arbeit konzentriert sich auf prekäre mentale Zustände, diesmal aber steht weniger das Individuum im Gegensatz zum Kollektiv im Mittelpunkt der choreographischen Anlage (gewiss: das ist auch ein Thema, so wie die Figuren auch diesmal im Rückwärtsschritt laufen), sondern die Zweier- und Dreier-Begegnung. Ausgehend von der Beobachtung, dass die Hysterie ein Zeichen des Kontrollverlusts ist, geht Tilt einen Schritt weiter, indem im nächsten Schritt die Kraft des Kollektivs beschworen wird; Owen Beltons Musik macht das deutlich genug, bevor sich die Gruppe wieder auflöst und am Ende, nachdem sich der Raum deutlich und symbolisch wie real verengt hat, Einer zurückbleibt. Der vom Team Leticia Gañán & Curt Allen Wilmer entworfene Raum besteht aus diesmal zwei Breitwandspiegel aus, die die Tänzerinnen und Tänzer wie die geraden Bodenstreifen graphisch verdoppeln: ein reizvolles, hochästhetisches Vexierspiel, gezeigt im kalten, graublauen Licht Sascha Zauners und Goyo Monteros. Die symphonisch angereicherten beats Owen Beltons, die Verzerrungen der Musik, die Spiegeltäuschungen und die Verzweiflungsattacken der Figuren: all das passt quasi harmonisch zusammen, weil Montero selbst dort, wo er schwere Störungen thematisiert, keinen ästhetischen Kontrollverlust erleidet.

Beats hört man auch im letzten Teil der Trilogie. Davor allerdings schreiten die Tänzerinnen und Tänzer in Reihe oder kreisförmig soundlos über die Bühne; das Einzige, was man hört, sind die rhythmisch präzisen Schritte. Manchmal tritt jemand aus der Reihe – und gliedert sich wieder stumm ein. Das ist sehr lustig – und sehr originell. Stephanie Lake, Melbourne, hat mit Artefact einen Abschluss des Dreiteilers vorgelegt, der deshalb funktioniert, weil er völlig anders scheint als die ersten beiden, gleichsam schwereren Teile, was nicht heißt, dass Artefact banal wäre. Es ist nur anders – und in jedem Sinne heller. Wie gesagt: Es geht Lake um „Beziehungen, Herzschmerz, Euphorie“ und „die Monotonie des Alltags“, doch hat Letztere glücklicherweise nicht die Oberhand; das köstliche Intro zu ihrer Arbeit mag schon der deutlichste Hinweis auf konditionierte und teilweise sinnentleerte Abläufe sein. Dann aber beginnt die Musik von Robin Fox. Ohne Pop zu sein, hat sie doch gelegentlich Ähnlichkeit mit Pop, fast könnte man einige Momente lang mit ihr in einen ganz normalen Tanzschuppen gehen. In einer höchst originellen Szene werden die Figuren wie Breakdancer von einem starken Wind über die Bühne getrieben. Das verbindende Element mit den beiden anderen Arbeiten liegt in den Kostümen: treten Bonacheras Figuren mit Aleisa Jaberts Shirts auf, tragen sie bei Montero mit Margaux Manns‘ gleichfalls entindividualisierende, wenn auch modisch gestaltete Teile, während bei Lake, die auch die Bühne und die Kostüme entwarf, die völlige Uniformität Platz gegriffen hat. So betrachtet, variiert Lake all die Themen, die bei Bonachera und Montero dunkler daherkommen – nur, dass die Bewegungen nun merklich runder und freundlicher aussehen. Von der düsteren Ausweglosigkeit der Montero‘schen Vision und der virtuosen Gesetztheit Bonachelas mag Lakes Lichtwelt nur ein Tanzschritt entfernt sein…
In summa aber wurde mit den drei Choreographien ein Abend hergestellt, der die in jedem Sinne große Nürnberger Compagnie vom ersten bis zum letzten Schritt mit einem äußersten Maß an Kraft, Disziplin und Kunstfertigkeit am Tanzwerk zeigt, als wolle Montero mit seiner vorletzten Premiere mit besonderem Nachdruck zeigen, was diese Truppe zu leisten vermag. Worum es letzten Endes ging? Um das Vergnügen am modernen Tanztheater. Der Beifall war, völlig zu recht, jedenfalls schon nach dem ersten Teil überbordend.
Frank Piontek, 3. Mai 2025
Drei Choreographien: Lux Tenebris / Tilt / Artefact
Rafael Bonachera / Goyo Montero / Stephanie Lake
Staatstheater Nürnberg
Premiere: 26. April 2025
Besuchte Vorstellung: 2. Mai 2025