Nürnberg: „Ritter Eisenfraß“, Kinderoper

Man nehme: eine kleine Operette von Jacques Offenbach, verwende die wenigen Charaktere, benutze ein bisschen Musik aus eben diesem Stück, nehme sodann als weitere Zutaten etliche andere und populärere Musik von Jacques Offenbach, schreibe, mit Grundlage einiger vorhandener Motive sowie neuer Idee, einen Text, ziehe einen musikalischen Bearbeiter und eine Handvoll Musiker hinzu, stelle einen Dekorateur und Kostümier ein, klopfe das Ganze auf die Tauglichkeit für kleinere Zuschauer ab – und fertig ist die Kinderoper „Ritter Eisenfraß (…) mit Musik von Jacques Offenbach“.

© Pedro Malinowski

So zu erleben in den Kammerspielen des Nürnberger Staatstheaters, wo seit einem glücklichen Samstagnachmittag der „Eisenfraß“ des Autors Johann Casimir Eule, der Dramaturgin Wiebke Hetmanek und des Arrangeurs Samuel Bächli erlebt werden kann. Schon an Länge kann es die Aufführung mit dem Original voll aufnehmen, ja: mit 70 Minuten bietet die Produktion sogar eine Viertelstunde mehr als der „Croquefer“, der 1857 im Théâtre des Bouffes-Parisiens seine Premiere erlebte, bevor er in Wien zum „Ritter Eisenfraß“ mutierte. Im Original ist das köstliche Stück eine der glücklichsten Eingebungen der jugendlichen Muse Jacques Offenbachs und seiner Librettisten Adolphe Jaime und Étienne Tréfeu. Die Macher verulkten damals nicht allein die mittelalterlichen Ritter und Recken und deren lächerlichen, aber blutigen Ehrencodex. Sie parodierten auch die zeitgenössische Grand Opéra, indem sie nicht allein ein Romeo-und-Julia-ähnliches Paar, sondern auch die hübschesten Paraphrasen auf die zur Konvention geronnenen Pathosformeln der „ernsten“ Oper erfanden. In der Kinderoper geht das fast verloren; lediglich wenige Male klingt das im Original immer wieder in kürzesten Abständen herausgebrüllte „O ciel“ an; „Schlag ein!“, so lautet die deutsche Fassung. Der Rest ist, rein musikalisch betrachtet, ein Ausflug in die Gefilde des Königs von Arkadien (aus dem „Orphée“), der für das eigentliche, freilich nicht so gute Couplet des Eisenfraß geradestehen muss, den Anfang macht schon der General Bum-Bum (aus der „Herzogin von Gerolstein“, die nur vier Wochen nach der Premiere des „Eisenfraß“ an der Nürnberger Oper die Bühne betreten wird) – und am Ende entzückt, nach weiteren entlehnten Offenbachiaden, die Variante der berühmten Barcarole „Schöne Nacht, o Mitternacht“ (die schon Offenbach in „Les contes d‘Hoffmann“ recycelte) und eine Anspielung auf Bizets ritterliche Aragonaise. Das falsche Burggespenst Gregor darf da die beiden Streithähne Eisenfraß und Ritter Schlagetot (im Original ist‘s der schwer geschädigte Mousse-à-Mort, der nicht nur einige wichtige Körperteile, sondern auch seine Zunge im Kampf verloren hat) pädagogisch zum Besseren: zum Frieden, also zur Beilegung ihrer jahrtausendealten Familienfehde bringen.

© Pedro Malinowski

Neu ist auch die Grusel-, Graus- und Schreckmaschine, die der Knappe Karl (Boutefeu) erfunden hat, der Schwertleite (im Original trägt sie den weniger wagnerischen Namen  Fleur-de-Soufre), die Tochter des Erzfeindes Schlagetot, nur deshalb entführt und ins Verlies gesperrt hat, „um mal neuen Schwung in die alte Fehde zu bringen“ – und um die gar nicht schreckliche, sondern lächerliche Maschine zum Dampfen und Heulen zu bringen. Probater ist der Einsatz menschlicher Mittel: Um den Konflikt, der nur aus „Prinzip“ am Kochen gehalten wird, zu beseitigen, kommen Schwertleite und Jacques ( Ramasse-ta-Tête) auf die Idee, das versammelte Kinderpublikum einzusetzen. Kurz nach der 50. Minute – sehr gut: wenn die Gefahr besteht, dass die Aufmerksamkeit der kleineren Zuschauer erlahmen könnte, und doch spät genug, um nicht schon von Anfang an eine hysterische Stimmung unter den jugendlichsten Opern-Aficionados zu provozieren – im letzten Drittel also wird „Ritter Eisenfraß“ zum Mitmachtheater. Selten genug, dass ein Rezensent dazu animiert wir, 1. furchtbar zu heulen wie ein Werwolf, 2. grauenvoll zu knurren und / oder zu schmatzen und 3. entsetzlich zu brüllen wie ein Dinosaurier – und das noch crescendo und decrescendo. Die Übung gelingt natürlich. Die beiden Krieger fürchten sich angesichts der Geräuschkulisse, auch vor dem Burggespenstfräulein, wissen nicht mehr, wieso sie eigentlich aufeinanderschlagen und finden, dass es viel schöner ist, den Krieg mit einer Hochzeit der beiden Frischverliebten zu beenden.

© Pedro Malinowski

„Ich zieh dir die Strumpfhosen lang!“ – Das ist so das Niveau der kindgerechten Oper, die Komik mit milder Aufklärung verbindet. Der Knappe Karl ist eine junge Dame mit Märchenbart, sie heißt Sara Šetar und macht ihre Sache herzallerliebst. Seok-Jun Kim ist der König der Löwen, pardon: Herr Eisenfraß persönlich; mit seinen Tigerpuschen und seinem mächtigen Bart sieht er noch herzallerliebster aus (und sein Bass klingt sehr vielversprechend). Mykhailo Kushlyk, ein Tenor aus der Ukraine (2021 gewann er den zweiten Preis des Solomiya Krushelnytska Vocal Wettbewerbs in Lviv), macht den Jacques; er macht, das ist eine gute Dramaturginnenidee, das erst in der Gegenwartskluft, bevor er sich in das anachronistische Gewand der sog. Ritterzeit stürzt, um gleichsam mitzuspielen. Linda Hofmann hat übrigens eine schöne Bühne entworfen, die trotz des „Hauchs von Speck“, der bei den Eisenfraßens nur noch auf den Tisch kommen kann, so gemütlich aussieht, dass man fast Lust bekommt, dort einzuziehen – es mag aber auch am warmen Licht liegen, für das Günther Schweikart verantwortlich ist. Mats Roolvink ist der knurrige Schlagetot – und die Prinzessin des Abends heißt Veronika Loy. Zuletzt schwebte sie noch als Sand- und Taumännchen über die Bühne, nun spielt sie die weibliche Hauptrolle: im Outfit einer feschen und selbstbewussten Piratenbraut, mit einem Körnchen Gold in der Kehle, das dem Nachmittag, der sowieso Laune macht, noch zusätzlich Esprit verleiht. Der kommt auch vom Miniaturorchester: vorn sitzt Urszula Barnaś am Klavier; sie kommt aus dem südpolnischen Tarnow, wo es nicht nur das gute Żywiec-Bier, sondern auch einen guten Kirchenchor gibt, in dem die Korrepetitorin musikalische Erfahrungen sammelte. Dies nur zum reichhaltigen Thema „Nürnberg und der Osten Europas“. Der Ton macht die Musik; Kushlyk singt einmal sein – von Offenbach gleichzeitig ironisch und ernsthaft angelegtes – „Minnelied“ als „Love song“, wobei ihm das Violoncello (klar: es war Offenbachs Instrument), das Horn, die Querflöte, das auch mal modern agierende Schlagwerk und das Klavier begleiten. Die Mitglieder der Orchesterakademie und der Staatsphilharmonie Nürnberg machen das zusammen mit den singenden Mitgliedern des Internationalen Opernstudios Nürnberg so routiniert, dass man den „Eisenfraß“ auch Leuten empfehlen kann, die wesentlich älter sind als das Durchschnittsalter des Publikums es suggeriert. Denn Offenbach wirkt immer: selbst in einer Pastiche-Version, die Scherz, Satire und höhere Bedeutung vereinigt. Zwar nicht ganz so derb wie bei Offenbach möglich, zwar nicht so anspielungsreich wie beim Komponisten und seinen Autoren – aber wer kennt schon all die Vorlagen, aus denen das Trio 1857 seine Witze herausholte? Dass aus der Barcarole ein Gespensterlied und aus dem General Bum-Bum ein Ouvertüren-Motiv wird, ist ja schon hintersinnig – und die Kinder kriegen, ob sie wollen oder nicht, nicht nur eine Moral und ein kurzweiliges Operetten-Stück, sondern auch einige unsterbliche Offenbach-Melodien mit auf den Heimweg.

Und brüllen wie ein Dinosaurier macht einfach Spaß.

Frank Piontek, 6. Februar 2023


Jaques Offenbach / Samuel Bächli / J.C. Eule / W. Hetmanek: Ritter Eisenfraß

Besuchte Premiere am 4. Februar 2023

Inszenierung: Sebastian Häupler

Ausstattung: Linda Hofmann

Musikalische Leitung: Urszula Barnaś

Mitglieder der  Orchesterakademie und der Staatsphilharmonie Nürnberg