Nürnberg: „The Legend of Georgia McBride“, Matthew Lopez

(c) Staatstheater Nürnberg

Noch vier Jahre nach der Premiere ist die Bude – pardon – rammelvoll. Man sieht extrem viele junge Leute, Schüler und Studenten. Kein Wunder: The Legend of Georgia McBride rockt das Haus. Sie tut es auf meist harmlose Weise; das steigert die Akzeptanz, auch wenn oder besser: weil man weiß, dass mit einem verwandten Musical, der großartigen Priscilla, Queen of Desert, ernstere Töne angeschlagen worden sind. Doch schon im Cage aux Folles, der als Käfig voller Narren bis heute die Massen anlockt, wurde das Entertainment mit einem Sound angereichert, die bei Georgia McBride wenigstens in ein bis eineinhalb Szenen anklingen: der Kritik an der Homophobie, vulgo: dem Schwulenhass, der Ablehnung all dessen, was früher als abartig galt. Heute ist’s Unterhaltung für Jung und Alt, Schwul und Nichtschwul, Divers und Nichtdivers – und die Frage, die im Programmheft nicht zu Unrecht gestellt wird: ob ein derartiges Unterhaltungsstück nicht aufgrund der Mainstreamisierung des Drag-Phänomens „den radikalen geschlechter- und sexualpolitischen Ansatz, den diese Kulturform ursprünglich hatte“ (hatte sie wirklich??), quasi weichspült, ist so relevant wie unwichtig.

(c) Staatstheater Nürnberg

Denn könnte man nicht auch argumentieren, dass jeder Besucher und jede Besucherin, die Spaß an solchen Späßen hat, bewusst oder unbewusst ein bisschen toleranter gegenüber jenen Lebensformen wird, die, seien wir ehrlich, selbst in einer halbwegs aufgeklärten Gesellschaft bei etlichen Leuten immer noch als „anders“ gelten, obwohl sie genauso „normal“ sind wie wir alle? Wenn Caseys alias Georgias Nachbar Jason erzählt, dass er einmal in einen Transsexuellen, die „schönste Frau“, die er je getroffen habe, schwer verliebt war, sich aber aufgrund des Geschlechtsteils von ihm/ihr getrennt habe und es heute bereut, haben wir es mit der bewegendsten und stillsten Szene des Abends zu tun, die nur von ganz Wenigen im Publikum verlacht wird. Zugegeben: „Drag ist“, wie es im Stück heißt, „kein Hobby. Drag ist kein Nebenjob. Drag ist Protest. Drag ist eine erhobene Faust in einem Pailetten-Handschuh.“

Soviel zur Theorie. Der Pailetten-Handschuh glitzert denn auch in Nürnberg sehr leuchtend, die Faust kommt nur in einer einzigen Szene zum Vorschein: wenn Rexy alias Anorexia Nervosa alias Justus Pfankuch die frühe Leidensgeschichte einer jungen Drag-Queen, also seine eigene, erzählt, womit auch sein Alkoholismus motiviert werden könnte, wofür sich der Regisseur Christian Brey und der Autor allerdings wenig zu interessieren scheinen. Ansonsten arbeiten sich der brillante Yascha Finn Nolting als Casey alias Georgia McBride und seine Drag-Mother Miss Tracey Mills alias Pius Maria Cüppers („Eine Hete in Drag und eine Drag in der Hölle“, wie die gattungsmäig spitzzüngige „Miss Mills“ so schön sagt) herzhaft durch den durchaus meistens witzigen Stücktext und die grandiosen Showblöcke. Verglichen mit Priscilla wirkt Matthew Lopez’ Stück wie der Versuch, den Broadway mit allen Mitteln des herkömmlichen Showtheaters zu erobern, ohne ein Mindestmaß an Einfühlsamkeit in die Probleme einer Drag-Queen vermissen zu lassen. Was zählt, ist am Ende die Unterhaltung; kein Zufall, dass zwei Showblöcke wie Revue-Einlagen innerhalb der „Musikkomödie“ wirken und das letzte Wort die Konfettikanone hat. „Musikkomödie“: das trifft’s, denn die Theater-Szenen werden nicht allein von den Songs und Tanznummern durchzogen, sondern auch von Thomas Essers kurzen und gut gemachten Entracte-Musiken verbunden. Geschildert wird (A star is born …) die Schaffung der Drag-Queen Georgia McBride, die als erfolgloser Elvis-Imitator beginnt und als Dixie Chick unter ihrer Mentorin im Provinzkaff Panama City einen gloriosen Aufstieg erlebt. Die Show wirkt routiniert; Erinnerungen an herkömmliche „neue“ Musicals und ihren bekannten Sprechstil sind nicht zu verleugnen – und natürlich, das passt zum Konzept, löst sich der Konflikt des zur Drag mutierten jungen Ehemanns mit seiner Frau, die es nicht ertragen kann, dass ihr Mann ihr ein halbes Jahr sein Dasein als Drag-Queen verschwiegen hat, am Ende zur Zufriedenheit aller auf. Pola Jane O’Mara macht das als Jo übrigens sehr gut, weil man die junge Frau durchaus begreift, ohne in ihr gleich eine Schwulenhasserin sehen zu müssen. Und Casey erkennt sich selbst, indem er seine Rolle als Drag-Queen bewusst akzeptiert und lustvoll ausfüllt, ohne seinem Hete-Dasein Adieu sagen zu müssen. Es ist wie im Märchen …

(c) Staatstheater Nürnberg

Routine muss ja nichts Schlechtes sein. Wenn Nolting zunächst bewusst klamaukig seinen ersten Auftritt als Piaf zur Klamotte macht und nach zwei weiteren Versuchen zurecht den Szenenapplaus auf sich ziehen kann, begreifen wir, wie viel Arbeit, Perfektion, Charme und Professionalität in den Auftritten steckt, die wir die nächsten 90 Minuten sehen. Es macht schließlich einfach Spaß, unter der Monumentalskulptur des namengebenden Fuchses in der Foxy Bar die Leute tanzen, singen und springen zu sehen: von „Padam“ über „Je ne regrette rien“ (Bedeutung!) zu Madonna, zu in die Beine und Hände fahrenden Disco-Hits und zur Musik der Dixie Chicks, die mit Georgia MacBride eine besonders aparte Vertreterin gefunden haben. Nicht zu vergessen: die drei Tänzer Christian Müller, Lorenzo Pignataro und Silvan Ruprecht. Was Cüppers, Nolting, Pfankuch und die drei Diven auf die Bühne stellen ist besser als jedes Gegenwartsmusical: weil es sich selbst ein bisschen auf die Schippe nimmt und doch von Yoko El Idrisi perfekt choreographiert und mit einem gehörigen Hauch von „Camp“ ausgestattet wurde. Wenn Miss Tracey Mills „Somewhere over the rainbow“ parodiert und als Glitzerkugel auf der Kugel über die Szene schwebt, wenn sie sichtlich Spaß an der harten Arbeit hat und die Großen des Showgewerbes dank Karaoke-Technik persiflieren kann: dann ist’s eine erstrangige Huldigung an die Kunst der Unterhaltung, nicht zuletzt an die Kunst der Drag-Queens. Wenn Nolting/Georgia/Casey Dolly Partons „Jolene“ und, mit Blick auf Caseys Frau, Tammy Wynettes „Stand by Your Man“ singt, liegt ihm das Nürnberger Publikum zurecht zu Füßen. Und Gitarre spielen kann er, wieder mit Blick auf Jo („You know me“), auch – alles abgezirkelt, alles echt, alles, doch, bewegend.

Also Riesenapplaus für einen höchst unterhaltsamen Abend.

Frank Piontek, 12. Januar 2024


Matthew Lopez:
The Legend of Georgia McBride
Musik: Thomas Esser u.a.

Staatstheater Nürnberg

Premiere: 25.Januar 2020
Besuchte Vorstellung: 10. Januar 2024

Regie: Christian Brey
Choreographie: Yoko El Idrisi