Bern: „La Bohème“

Premiere: 24. November 2018

Die Erinnerungen des Malers Marcello

Was ist die Herausforderung bei einer Neuinszenierung? Diese Frage stellt sich für jeden Regisseur, jede Regisseurin bei der Inszenierung eines Klassikers, sei es im Musiktheater oder auf der Sprechbühne. Der Regisseur der Berner Bohème, Mathew Wild, beantwortet diese Frage wie folgt: Meiner Erfahrung nach hat das Publikum zu meist eine recht konkrete Erwartungshaltung, was vergleichbare Opernklassiker angeht. La Bohème wird beispielsweise ein vermeintlich romantisches Bild unterstellt, behandelt aber schwierige Themen wie Armut, Künstlertum, Krankheit oder Tod. Für mich ist die Jugend mit all ihren positiven und negativen Aspekten in diesem Werk ein zentrales Thema: Auf der einen Seite steht deren unerschöpfliche Energie, Sorglosigkeit, Kreativität und die Verweige-rung aller Seriosität, auf der anderen Seite eine grosse Rücksichtslosigkeit im Zwischenmenschlichen und das Unverständnis der eigenen Sterblichkeit. Genau hier liegt der Anknüpfungspunkt meiner Inszenierung: Marcello wird sowohl durch eine junge als auch eine betagte Bühnenfigur verkörpert. Mittlerweile zu Erfolg und Ansehen gekommen, wird er im Alter– auch im Rahmen seines teilweise dementen Zustandes – mit Erinnerungen an seine Jugendzeit konfrontiert. So begegnet die Weisheit und Reue des Alters direkt der Unachtsamkeit der Jugend.

Der südafrikanische Regisseur hat für seine Arbeit in Bern einen interessanten Ansatz gewählt: Die gesamte Handlung wird als Rückerinnerung des alten, an der Schwelle des Todes stehenden Marcello dargestellt. Dieser ist inzwischen ein berühmter Künstler geworden. Vorbereitungen für die Eröffnung der Retrospektive über sein künstlerisches Werk sind in vollem Gange. Marcello im Rollstuhl betritt mit seiner Frau Musetta und seinem Enkelsohn die Galerie. Angeregt von all seinen Kunstwerken setzt die Rückblende auf sein Leben in der Pariser Bohème ein.

Diese Erinnerungen folgen genau dem Libretto und der Musik Puccinis.

Mathew Wilds Regie sprüht vor Lebenslust. Seine Figuren auf der Bühne lassen keine Langeweile aufkommen, seine Personenführung ist zwingend, erlaubt aber seinen ProtagonistInnen genügend Bewegungsspielraum. Er vermeidet dadurch das im heutigen Musiktheater nicht mehr zeitgemässe, aber oft noch zelebrierte Rampensingen. Seine Künstler singen dort auf der Bühne wo es dramaturgisch Sinn macht und die Geschichte weiterführt. Jedes der vier Bilder wird vom alten Marcello mit seiner Entourage eröffnet und beendet. Dieser rote Faden hilft dem Verständnis für die Geschichte und hält das ganze Werk zusammen.

Sehr gelungen ist der Abschluss des Werkes: Bei Puccini singt Rodolfo "Mimi, Mimi"! Ende! Bei Wild steht Mimi auf, nimmt den greisen Marcello bei der Hand und führt ihn weg. Wohin ?! Mit dem Tod Mimis lösen sich die Erinnerungen auf und der alte Marcello ist bereit, nun selbst seine letzte Reise anzutreten.

Das Berner Symphonieorchester unter der musikalischen Leitung von Ivo Hentschel präzise und professionell mit viel Energie und Emotionen. In ff-Passagen erschien mir das Orchester gegenüber den Sängern eher zu laut. Es zwingt die KünstlerInnen auf der Bühne zu stimmlicher Parforceleistung, welche dem Schönheitsideal einer modernen Aufführung nicht unbedingt entspricht. Dramatik kann und muss auch anders als mit Lautstärke dargestellt werden!

Als immer präsenten greisen Marcello erlebte ich auf der Bühne den Tenor John Uhlenhopp, welcher auch die Rollen von Benoit, Parpignol und Alcindoro übernahm. Die Interpretation Uhlenhopps ist sowohl gesanglich als auch darstellerisch makellos und überzeugend.

Vier Rollen in einer Person? Wieso dies? Dazu der Regisseur im Interview mit der Dramaturgin Katja Burri: Um dem Älterwerden ein Gesicht zu geben, fassen Sie die drei Charaktere Alcindoro, Benoît und Papignol zu einem zusammen. Was prädestiniert diese Figuren dazu, zum alten Marcello zu verschmelzen?

Auch hier lassen wir den Regisseur zu Worte kommen: In seiner teils schmerzhaften Erinnerung wird der alte Marcello zu einem Abbild all der älteren Menschen, denen er in jüngeren Jahren selbst respektlos begegnet ist. In einer bisweilen buffonesken Manier hat Puccini den vier Bohémiens Marcello, Rodolfo, Schaunard und Colline einen eher hässlichen und garstigen Umgang mit älteren Menschen angedeihen lassen – wobei dies sicher auch der komischen Operntradition entspringt.

Hervorragend, emotionell überzeugend mit sicherer Intonation und Diktion, die Sopranistin Evgenia Grekova, Ensemblemitglied im Konzerttheater Bern. Ihre musikalische Auffassung der Rolle überzeugt von Anfang an. Ihre Körpersprache unterstreicht zusammen mit ihrer Mimik ihre Zerrissenheit und ihre Liebe zu Rodolfo. Eine Spitzenleistung der anspruchsvollen Rolle. Ihre Schlussarie vierten Bild "Sono andati? Fingevo di dormire" im Duett mit Rodolfo überzeugt vom ersten bis zum letzte Ton.

Der dänische Tenor Peter Lodahl als Rodolfo ist ein ebenbürtiger Partner von Grekova. Seine gespielte Eifersucht um eine Trennung herbeizuführen überzeugt, seine Intonation und Diktion ist makellos (voller Hingabe und Liebe seine Arie "Che gelida manina") bis auf die Passagegen wo meines Erachtens das Orchester zu laut ist, dort leidet seine Stimme durch die erzwungene Lautstärke.

Als junge Musetta feiert die Ungarin Orsolya Nyakas im zweiten Bild einen triumphalen Auftritt. Auch Nyakas ist Berner Ensemblemitglied. Ihr strahlender Sopran, gepaart mit einer überzeugenden Musikalität und hoher darstellerischer Kunst, dominieren das zweite Bild im Cabaret Momo ohne dabei den Gesamteindruck zu zerstören. Sie lässt bei aller Virtuosität Platz für das gesamte Ensemble.

Als jungen Marcello sehen und hören wir den amerikanischen Bariton und Ensemblemitglied Todd Boyce. Er hat mich schon als Don Alfonso überzeugt. Als Marcello gefällt er mir noch besser, seine Persönlichkeit als Liebhaber, als eifersüchtiger Liebhaber spielt er überzeugender als den Zyniker Don Alfonso. Seine gesangliche Leistung ist überzeugend und präzise, sein kraftvoller Bariton immer präsent in sehr guter Diktion und Intonation.

Amüsant der in Prag geborene Bariton Michal Marhold als Schaunard. Er wirbelt als Transvestit grossgewachsen auf hohen Absätzen präzis singend über die Bühne. Eine durchaus originelle, der Bohémien Zeit im 19. Jahrhundert angemessen. Sein voller Bariton kontrastiert wunderbar mit seiner Rolle. Seine Schauspielkunst, seine Mimik und Gestik überzeugen bis zuletzt, wirken aber nie aufgesetzt, übertrieben.

Der Südkoreanische Bassist Young Known gefällt mit profunden kraftvollen Tiefen als Colline. Seine Mantel-Arie (Arietta) im vierten "Vecchia zimarra, senti" überzeugt durch präzise Tongebung und hervorragend gesungener Emotion.

Chor und Extrachor Konzerttheater Bern (Einstudierung Zsolt Czetner) präsentierte sich in Hochform. Amüsant war der Auftritt Kinderchor Singschule Köniz als "Batman’s.

Für die Bühne verantwortlich war Kathrin Frosch. Die Lichtführung wurde von Bernhard Bieri entworfen. Die Kostüme zeichnete Ingo Krügler.

Den einzelnen Buhrufern ins Tagebuch geschrieben sei: Derjenige der nichts zu sagen hat, soll dies nicht mit reden (Buhen) beweisen! Nur fortschrittliche Ideen junger RegisseurInnen bringen das moderne Musik- und Sprechtheater weiter, erlauben eine Weiterentwicklung. Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche.

Das zahlreich erschienene Premierenpublikum belohnte die Arbeit des gesamten Teams mit langanhal-tendem Applaus.

Peter Heuberger 26.11.2018

© Fotos Annette Boutellier