Mailand: „Chovanscina“

Aufführung am 13.3.19 (Premiere am 27.2.)

Russland authentisch

Modest Musorgskijs Schmerzenskind war an der Scala zum letzten Mal vor genau 21 Jahren zu hören gewesen, im Frühjahr 1998. Auch damals dirigierte Valery Gergiev Chor und Orchester des Hauses. Es ist sensationell, wie es dem russischen Maestro gelingt, den hiesigen Musikern einen Klang zu entlocken, bei dem man den Eindruck hat, das russische Repertoire sei ihr tägliches Brot. Gespielt wurde die Orchestration von Schostakowitsch, die sich mit ihrer den Intentionen Musorgskijs getreueren Ruppigkeit wohl endgültig gegen die glättende Bearbeitung Rimsky-Korsakows durchgesetzt hat. Auch der Chor leistete unter Bruno Casoni wieder Bravouröses. Wir sind an tolle Leistungen von dieser Seite ja gewöhnt, aber hier, wo der Chor Volk, Strelitzen, Altgläubige und vieles andere mehr zu interpretieren hat, war es ein besonderer Genuss, den verschiedenen klanglichen Nuancen dieser eigentlichen Hauptperson des Werks nachzuspüren.

Es ist immer wieder beeindruckend, wie unterschiedlich bei manchen russischen Künstlern die Leistungen in ihrem ureigenen und im fremden Repertoire sind. Hatte mir Michail Petrenko im November 2017 als Zaccaria noch kräftig missfallen, so stellte er nun einen Ivan Chowanskij auf die Bühne, der stimmlich und darstellerisch den arroganten Fürsten prachtvoll umsetzte. Sein Sohn Andrej fand in Sergej Skorokhodov mit typisch slawisch gefärbtem Spintotenor ausgezeichnete Verkörperung. Schauspielerisch tüchtig, aber vor allem gesanglich als Einziger mit einem prachtvollen Legato aufwartend, war der Bariton Alexey Markov (Saklovityi). Interessant war der Dosifej des Stanislav Trofimov, der dem Hüter der Altgläubigen balsamisch-friedliche Basstöne verlieh, aber im Zusammenprall mit seinen Gegnern durchaus auch Härte vermittelte. Die schwierige Rolle der Marfa, schwankend zwischen enttäuschter Liebe, ekstatischem Glauben und wie entrückten Wahrsagungen, verkörperte Ekaterina Semenchuk sehr überzeugend. Mochten ihr auch wenige Tiefen eines echten Alts fehlen, so war ihre Leistung doch mitreißend, etwa die schlimme Prophezeiung im 2. Akt. Als alte Altgläubige Susanna (diese Szene wurde in der Vergangenheit oft gestrichen) bestach Irina Vashchenko mit angenehm dunkel getöntem Sopran und starker Persönlichkeit.

Mit schrillen Tönen enttäuschte Evgenia Muraveva als Protestantin Emma, was aber auch an der wirklich unangenehm geschriebenen Rolle liegen kann, denn in fünf verschiedenen Produktionen habe ich bisher nur schrille Emmas gehört. Als Schreiber erwies sich der exzellente Charaktertenor Maxim Paster bei seinem zweiten, stimmlich sehr fordernden Auftritt als leicht überfordert. Auch Evgeny Akimov war nicht die ideale Wahl für den Fürsten Golicyn, denn sein zum Charakterfach tendierender Tenor war zu wenig dramatisch für die anspruchsvolle Rolle. Von den in kleinen und Kleinstpartien eingesetzten Solisten der Accademia der Scala nützte vor allem Maharram Huseynov als lutheranischer Pastor seine Chance, um einen angenehmen Bass und unbefangenes Spiel hören bzw. sehen zu lassen.

Als Regisseur dieser losen, den Fakten nicht immer chronologisch folgenden Szenen entschied sich Mario Martone für eine Inszenierung, die in einer dystopischen Zukunft spielt, die für alle Beteiligten Zukunft ist: Für Peter den Großen (der zwar nicht auftritt, um dessen Machtübernahme sich aber alles dreht), für Musorgskij, aber auch für ein heutiges Publikum.

Angesichts der nicht immer zusammenhängenden Handlungssplitter erscheint mir dies nicht die schlechteste Lösung und in jedem Fall besser als eine historisierende Abbildung der Ereignisse. Martone ließ sich von Margherita Palli eindrucksvolle Bilder bauen, eine Trümmerlandschaft für den 1. Akt, einen seltsam aus der Zeit gefallenen Pavillon für den 2. und 4. Akt, eine Landschaft voll Eis und Schnee für den 3. und die Darstellung einer roten Sonne für den 5. Unterstützt wurde sie dabei vom Licht des Pasquale Mari, aber vor allem von den geschickten, nie aufdringlichen Videos von Italvideo Service. Das Volk und die Soldateska waren so zeitlos gekleidet wie die Protagonisten (Kostüme: Ursula Patzak). Die Tänze der persischen Sklavinnen waren als Auftritt billiger Stripperinnen gesehen (Choreographie: Daniela Schiavone). Martone bewegte Massen wie Solisten geschickt, wobei vor allem die von Susanna in einen Käfig gesperrte Marfa bei den Solisten und die Führung des Chors der Altgläubigen bei ihrem freiwilligen Massenselbstmord im Gedächtnis bleiben.

Am Schluss gab es viel Zustimmung, die sich für Gergiev zu Ovationen steigerte.

Eva Pleus 17.3.2019

Bilder: Brescia & Amisano / Teatro alla Scala