Aufführung am 6.11.19 (Premiere)
Großer Orchesterzauber
Mit der letzten vom Zweigespann Strauss-Hofmannsthal komplett erarbeiteten Oper (der Dichter starb bekanntlich während der Arbeit an „Arabella“, was den Komponisten in eine tiefe Krise stürzte) schloss die Scalasaison 1918/19. An der 1928 in Dresden unter Fritz Busch und mit Elisabeth Rethberg ur- und im selben Jahr in Wien mit Maria Jeritza und Franz Völker erstaufgeführten Oper gab es seitens Kritik und Publikum wegen „gefährlicher Längen“ gemischten Widerhall, und sie wurde unter der einflussreichen Mitarbeit von Clemens Krauss 1933 in Salzburg zum ersten Mal gegeben. In dieser „Wiener Fassung“ genannten Form (weil sie in Wien erarbeitet wurde) setzte sie sich besser durch und war nun auch an der Scala zu hören und zu sehen. Damit gab es nach der „Toten Stadt“ die zweite Erstaufführung eines deutschsprachigen Werks in dieser Saison.
Trotz der Überarbeitung wurde die Oper nie wirklich populär. Strauss hatte an eine ironische Auslegung des Mythos von der schönen Helena gedacht, etwa in der Nähe von Offenbachs „Belle Hélène“ angesiedelt. Dem stand aber Hofmannsthals schwerblütiger Intellekt entgegen – die Korrespondenz zwischen den beiden Künstlern zeigt auf, wie sie ziemlich oft aneinander gerieten. Der Dichter hat wohl manch feinsinnige Ironie in sein Textbuch gegossen, doch ist sie ohne profunde klassische Bildung nicht so einfach zu erfassen. Die Handlung beruht u.a. auf Euripides und seiner Tragödie „Helena“, in der behauptet wird, die schönste Frau der Antike habe ihren Mann Menelaos nicht verlassen, um mit Paris nach Troja zu fliehen, sondern das sei eine Truggestalt, ein Traumgebilde, gewesen, während die wahre Helena, von der Zauberin Etra nach Ägypten entführt, dort die Dauer des zehnjährigen trojanischen Kriegs verschlief, und zwar ohne zu altern.
Bei Hofmannsthal befindet sich Menelaos (hier: Menelas) nach dem Fall Trojas mit Helena auf einem Schiff, um nach Griechenland zurückzukehren und beabsichtigt, seine Frau wegen ihres Verrats zu töten. Etra (hier: Aithra) erfährt von der allwissenden Muschel (wohl ein ironisch-liebevoller Verweis auf Wagners Erda) von den Plänen des Königs, lässt das Schiff in einen Sturm geraten und rettet das Paar auf ihre, Aithras, Insel. Hier flößt sie Menelas einen Vergessenstrank ein, und es wird ihm die Geschichte von Helenas Verweilen in Ägypten erzählt. Der Trank ist wohl dem Prozess der Verdrängung gleichzusetzen, einer Verdrängung von Erlebnissen, die immer wieder an die Oberfläche, also ins Bewusstsein, drängen. So bleibt Menelas trotz einer erfüllenden „zweiten Brautnacht“ gestört und glaubt immer wieder Paris zu sehen. Als sich auch der Wüstenfürst Altair und sein Sohn Da-ud in Helena verlieben, bricht sich Menelas‘ Argwohn Bahn, und auf der Jagd tötet er Da-ud. Da erbittet Helena von Aithra einen Trank, der die Erinnerung wiederbringt, und stellt sich aufrichtig dem Gatten. Gemeinsam überwinden sie die Krise – Aithra hat auch die gemeinsame Tochter Hermione herbeigeholt, und einer glücklichen Wiedervereinigung steht nichts mehr im Wege. Dieses Finale soll uns wohl auch zeigen, dass Autor und Komponist weiterhin an bürgerliche Werte wie Ehe und Familie glaubten, die durch den 1. Weltkrieg ins Wanken geraten waren.
Die Musik ist von unerschöpflicher Vielfalt, mit einer raffinierten Orchestration, wie wir sie von dem bayrischen Komponisten kennen und lieben. Die Orchesterbesetzung ist wieder riesig – so gibt es gar sechs Oboen und sechs Klarinetten außerhalb des Grabens! Strauss erweist sich neuerlich als Meister der Beschreibung und lässt den Hörer in den erwarteten Klangrausch eintauchen. Von den Stimmen der beiden Protagonisten wird allerdings geradezu Unmenschliches verlangt. Nur Kleingeister können da abschätzig von „Kunsthandwerk“ sprechen.
Nach seiner eher enttäuschenden „Ariadne“ im Frühjahr zeigte sich Franz Welser-Möst diesmal von seiner besten Seite und führte das Orchester des Hauses in rauschhaft tönende Welten, die von den Musikern ausgezeichnet bewältigt wurden. Die Titelrolle sang Ricarda Merbeth mit üppiger Tongebung und absolut furchtlos. Die zahlreichen Spitzentöne waren von überwältigender Sicherheit und niemals schrill. Es wäre wohl vermessen, von der Künstlerin auch noch persönliches Charisma zu verlangen. Neben ihr als Menelas Andreas Schager, der seinem Ruf wahrlich alle Ehre machte. Die Tessitura der Rolle ähnelt der des Kaisers in der „Frau ohne Schatten“, doch ist die Partie wesentlich länger. Strauss verlangt hier schier das Unmögliche, aber Schager machte es möglich. Als Aithra kam Eva Mei trotz ihrer doch zarteren stimmlichen Mittel mit Hilfe ihrer Technik gut über die Orchesterfluten und sah dazu bezaubernd aus. Nicht klar ist mir, warum Thomas Hampson die nicht nur kurze, sondern auch undankbare Rolle des Altair angenommen hat, die psychologisch nichts hergibt, denn gesanglich war er matt, und die Stimme klang stumpf. In den kurzen Auftritten des Da-ud erwies sich Attilio Glaser als vielversprechender Spintotenor. Die Engländerin Claudia Huckle war der für einen tiefen Alt (ähnlich der Gaea in „Daphne“) geschriebenen allwissenden Muschel stimmlich in keiner Weise gewachsen. Als Dienerinnen der Aithra und Elfen konnten Mitlieder der Accademia della Scala Erfahrung sammeln. Aus der Accademia kam auch Caterina Maria Sala, die als Hermione ihren einzigen Satz, „Vater, wo ist meine schöne Mutter?“, ohne offensichtliches Lampenfieber beisteuerte.
Die Inszenierung lebte vor allem von den Bühnenbildern von Julian Crouch und dem genialen Einfall, ein großes Radio im Stil der Zwanzigerjahre auf die Bühne zu stellen, aus dem die allwissende Muschel vor einem Standmikrophon ihre Mitteilungen macht. Das Radio hat aufklappbare Seitenflügel und gibt den Blick auf die verschiedenen Schauplätze frei. Wunderschön die glitzernden Kostüme der Damen Helena und Aithra von Mark Bouman. Auch die Beleuchtung von Fabrice Kebour und die Videos von Josh Higgason trugen viel zur optischen Wirkung bei, denn die Regie von Sven-Eric Bechtolf war eher statisch und sah nur für Aithra ein stärkeres Bewegungsvokabular vor (das von Eva Mei auch entsprechend bedient wurde). Die für das Off gedachten Einwürfe des Chors erklangen aus den Proszeniumslogen, exakt geleitet von Bruno Casoni.
Das Mailänder Publikum war der Erstaufführung gegenüber wohl eher skeptisch, denn in Parkett und Logen blieben viele Sitze leer. Die Anwesenden feierten Welser-Möst, Merbeth und Mei, für Schager gab es wahre Applausstürme. Hampson, der Rest der Besetzung und das Produktionsteam wurden höflich bedankt. Hoffentlich klappt der Mundfunk, und die sechs weiteren angesetzten Vorstellungen füllen sich stärker.
Eva Pleus 10.11.19
Bilder: Brescia & Amisano / Teatro alla Scala