Mailand: „Giulio Cesare in Egitto“

Aufführung am 28.10.19 (Premiere am 18.10.)

Freudvolles Barock

Über eine Vorstellung von Georg Friedrich Händels bedeutendem Werk konnte ich aus Italien erst einmal berichten, nämlich als es 2007 in Genua als einzige Barockoper in ganz Italien in einer kompletten Saison gegeben wurde. Angesichts der hohen Zahl von Produktionen aus dem Barock stammender Opern in Frankreich oder Deutschland haben sich die Zeiten hier seither nicht grundlegend geändert, aber eine Politik der kleinen Schritte führte zu dieser groß besetzten Vorstellungsserie an der Scala. Der Mundfunk tat seine schöne Pflicht, denn die vokale wie szenische Qualität des Gebotenen hatte sich herumgesprochen, und das Haus war bei dieser fünften Vorstellung praktisch ausverkauft.

Wenn von fehlender Barocktradition die Rede ist, muss darauf verwiesen werden, dass Hädels Oper an der Scala nur einmal zu sehen war. Das war 1956, und es gab eine wahre Glanzbesetzung, allerdings ohne jede philologische Kenntnis, denn der Dirigent Gianandrea Gavazzeni hatte nicht nur mindestens ein Drittel der Musik gestrichen, sondern auch einige der damals größten Scalastars zum Einsatz gebracht. Man stelle sich mit heutigen, philologisch geschäften Ohren vor, dass Franco Corelli die Sopranrolle des Sesto Pompeo sang und dem Bass Nicola Rossi-Lemeni die Titelrolle (Counter, bei der Uraufürung der Kastrat Senesino) anvertraut wurde! Cleopatra war damals Virginia Zeani, Giulietta Simionato sang die Cornelia, den Fiesling Tolomeo, im Original ein weiterer Counter, gab der Bass Mario Petri. Ein weiterer Bass, Ferruccio Mazzoli, sang die dritte Kastratenrolle, den Vertrauten Cleopatras wie Tolomeos, Nireno. Präentiert wurde die Sache auch mit verkürztem Titel – in Egitto war weggefallen.

Als Regisseur dieser heutigen, in jeglicher Hinsicht vorbildlichen, Wiedergabe zeigte Robert Carsen, wie eine seriöe Verlegung der von Hädel und seinem Librettisten Nicola Francesco Haym ursprüglich gedachten Epoche in die Moderne zu funktionieren hat. Ohne Hinweise auf derzeit stattfindende Auseinandersetzungen standen einander hier einfach Orient und Okzident gegeeiner. Das Bühnnenbild von Gideon Davey zeigte Waldtenlandschaften ür die Kampfszenen, deutete er die egyptischen Innenäume tapetenartig mit den bekannten historischen Abbildungen an, wählte eine Turnhalle mit Fitnessgeäten für die unerwünschten Annäherungen Tolomeos an Cornelia. Ein Bild war nachdrücklicher als das andere, unterstützt durch die gelungenen Kostüme: Tarnuniformen für die Ägypter, heutige Militäruniformen für die Besatzer, die so den Eindruck von Kolonialherren erweckten. Die kriegführende Cleopatra war zunächst auch in Uniform, um dann in wunderschöe Prunkgewänder zu wechseln.

In solchem Ambiente war Carsens Regie in jedem Augenblick prägnant und zeigte u.a. die Strukturen internationaler Diplomatie auf, wenn er die Delegationen der Ägypter Höflichkeitsbezeugungen und Geschenke austauschen ließen, an denen keiner der Parteien etwas lag. Grandios der Einfall, in der Szene, in welcher Cleopatra Cesare als Dienerin Lidia verführt eine eine Leinwand zu zeigen, die zunächst die bekanntesten Interpretinnen der Rolle in Filmen zeigte: Claudette Colbert, Vivien Leigh, Elizabeth Taylor (Video: Will Duke). Dann erschien Danielle De Niese in der Rolle und war von fesselnder Erotik und Sinnlichkeit.

Damit sind wir endlich bei den Sägern, für die jedes Lob als zu schwach erscheint. Um bei De Niese zu bleiben: Ihr Sopran hat kein Timbre, das man sich sofort merken wird, und ist auch nicht besonders voluminös, aber ihre Technik ist hervorragend und erlaubt ihr, alle Nuancen zwischen Abneigung, spielerischem Flirt und echter Verliebtheit auszuspielen. Das Gesagte gilt ebenso für ihre darstellerische Leistung zwischen Tigerin und schnurrendem Kätzchen. In der Titelrolle machte Bejun Mehta den Höhrer sprachlos. Näher kann man an die als engelhaft beschriebenen Klage der Kastraten wohl nicht herankommen. Dies gilt vor allem für die Betrachtungen Cesares vor der Urne mit der Asche des ermordeten Pompejus oder die Arie mit obligater Violine nach seiner Verführung durch Cleopatra. Umgekehrt brilliert Mehta von Anbeginn ab seinem ersten Auftritt ohne Aufwärmphase auch in den martialischen, aggressiven Tönen mit einer wahrhaft Staunen machenden Technik; ebenso präsent ist er als Schauspieler. Als Tolomeo zeigt Christophe Dumaux mit weniger homogenem Countertenor, aber einer Unzahl von Farben, alle Nuancen eines dekadenten, im Innersten verfaulten Bösewichts; auch hier geht die vokale mit der szenischen Leistung einher.

Prachtvoll singt Sara Mingardo die zahlreichen lamenti der Cornelia, Witwe des ermordeten Pompejus. Trotz des von Händel sinnlich konzipierten Tonfalls ähnelt keine dieser Klagen der anderen. Einer der Höhepunkte ist das Duett mit ihrem auf Rache sinnenden Sohn Sesto. Diesen singt Philippe Jaroussky mit hellem, etwas kantigem Countertenor, der sich als ideal für die Verkörperung des halben Kindes (das denn auch zunächhst in kurzen Hosen erscheint) erweist. Unter den Nebenfiguren ragte Renato Dolcini als Curio, Begleiter und Vertrauter Cesares, hervor. Der Bariton Christian Senn als Achilla, Gefolgsmann des Tolomeo, sang seine einzige Arie anständig. Giovanni Antonini neherrschte das auf Originalinstrumenten spielende Orchester des Hauses. Dem nicht nur erfahrenen, sondern auch phantasievollen Dirigenten braucht man keine neuen Lorbeerkräntze zu flechten. Tadellos wie immer die wenigen Takte des Chors des Hauses unter Bruno Casoni. Perfekt auch der aus Cembalo, Cello, Theorbe und Harfe bestehende Basso continuo.

Die Vorstellung hatte um 19.30 Uhr begonnen und endete um 23.20 Uhr. Die Begeisterung des Publikums bewies sich nicht nur durch Applausst, sondern auch in der Tatsache, dass die sonst so gerne rasch flüchtigen Parkettbesucher fast geschlossen sitzen blieben, um ihrer Zustimmung Ausdruck zu verleihen. Ein wahrhaft großer Abend!

Eva Pleus 4.11.19

Bilder: Brescia & Amisano / Teatro alla Scala