Premiere am 17. März 2019
Unterhaltsame Barock-Oper
Nun fand im Teatro Real de Madrid, welches gerade sein 200jähriges Bestehen feiert, eine weitere Saison-Premiere statt, die Barock-Oper „La Calisto“ des italienischen Komponisten Francesco Cavalli, bestehend aus einem Prolog und drei Akten. Es ist die neunte Oper, die Cavalli mit seinem Librettisten Giovanni Faustini in den 1640er Jahren schuf und seine 15. überhaupt, von immerhin 30 Werken. Ihre mythologische Handlung, eng an das Venedig des 17. Jahrhunderts angelehnt, basiert auf den Metamorphosen des Ovid (2. Buch). Im Jahre 1651 wurde „La Calisto“ im damals kleinsten Theater Venedigs uraufgeführt, dem Teatro Sant’Appolinare, mit nur 400 Plätzen. Cavalli selbst saß am Cembalo. Das Stück fiel beim Publikum jedoch durch. Selbst dieses kleine Haus war in der ersten Serie weniger als zur Hälfte gefüllt. Das kann auch daran gelegen haben, dass der Sänger des Endymion, Bonifatio Ceretti, schon vor der UA im November ernsthaft erkrankte und noch während der Serie verstarb und auch der Librettist wenige Wochen nach der UA starb. Unglückliche Sterne also für ein Stück, in dem der finale Rufe „alle stelle“ lautet und damit die Metamorphose der Calisto verbunden wird, die als das Sternbild Großer Bär in alle Ewigkeit am Nachthimmel prangen wird.
Die Madrider Produktion wurde nun von der Bayerischen Staatsoper übernommen. Das Teatro Real hat ja wie die meisten lateinischen Häuser kein eigenes Ensemble und kauft regelmäßig Produktionen ein. David Alden ist der Regisseur, der damals unter Intendant Sir Peter Jonas in gewisser Weise zum „Barock-Hausregisseur“ der Bayerischen Staatsoper avancierte, aber auch einen „Ring“ von Michael Wernecke ab der „Walküre“ übernahm. Wernicke war während der Arbeit an der Tetralogie verstorben. Sein „Rheingold“ versprach eine großartige Produktion, während der Alden-„Ring“ nach wenigen Jahren nachvollziehbar in der Versenkung verschwand.
Alden wählte ein bisweilen subtiles Regiekonzept mit beeindruckender und dem Stück vollkommen gerecht werdender Personenregie in einem grellbunten Bühnenbild von Paul Steinberg und den dazu passenden und fantasievollen Kostümen sowie Allegorien von Buki Schiff. Pat Collins sorgte für die darauf bestens abgestimmte Beleuchtung. Last but not least schuf Beate Vollack eine vielseitige und in dieser Produktion sehr bedeutsame Choreografie. Das leading team, das schon viele Jahre zusammenarbeitet, ließ das nicht immer ganz rund laufende Stück so in einem frischen und vor allem unterhaltsamen Glanz erscheinen. Langeweile kam nie auf, nicht unbedingt die Norm bei Barockopern.
Schon zu Beginn beherrscht ein lampenübersäter dunkler Himmel die Bühnenathmosphäre – es geht also bereits von Anfang an optisch und programmatisch in die Sterne. Die Szenerie wird durch bewegliche Bühnensegmente schnell wandelbar, was durch entsprechende Beleuchtung oft kaum merkbar vonstattengeht. Schwarz, Rot und Holzbraun sind die maßgeblichen Farben, die genau das Gegenteil dessen simulieren, was als trostlose, vom Menschen verwüstete Natur im 1. Akt zu sehen sein sollte. Offenbar wollten Alden und sein team gleich vom Mythos weg, ja ihn sogar persiflieren, wenn man nur an den auf schwarzen Flügeln hereinrauschenden Jupiter und seinen völlig vergoldeten Begleiter Merkur mit einem Aktenkoffer sieht. Dergleichen gibt es noch viel mehr. So erscheinen Allegorien einer Kuh, eines Pferdes, eines Schafes, einer Ziege und gar einer Schlange. Und ab und zu wackelt auch noch ein grüner Gecko herein, einmal mit einem Sektglas auf dem Rücken, wenn Jupiter mit seinen oberflächlichen Eroberungen mal wieder anstoßen möchte. Diese Szene erinnerte mich sofort and das Kim Il Sung, dem „Großen Führer“ Nordkoreas gewidmete Museum nördlich von Pjöngjang mit nach Angabe des damaligen Museumsbegleiters über 200.000 Staatsgeschenken.
Dort sah ich bei einem Besuch des Landes 2008 in einer Vitrine einen Alligator, der auf den Hinterbeinen aufrecht geht und ein Tablett mit Schnapsgläsern in den vorderen hält. Auf meine naive Frage, was das denn solle, bekam ich die Antwort: Dieses Geschenk wurde vom Revolutionsführer Nicaraguas, Daniel Ortega, überbracht um zu zeigen, dass vor dem „Großen Führer“ selbst prinzipiell gefährliche Alligatoren in dieser Art und Weise dienstbar werden… David Alden konzentriert sich ganz offensichtlich auf die Herausarbeitung der menschlichen Kapriolen und Irrgänge der Götter, die eben die gleichen Fehler und Vergehen vollziehen wie die Menschen. Sie sprechen damit das dekadente und gar libertinöse Leben im Venedig des 17. Jahrhunderts, also der Entstehungszeit der „Calisto“ an, wie der Künstlerische Direktor des Teatro Real, Joan Matabosch, in einem interessanten Aufsatz im Programmheft betont. Auch damals habe es schon umfangreiche Kritik am offenbaren Fehlverhalten der „Oberen“ gegeben. Passend dazu prangte am linken Bühnenrand in großen grünen Leuchtbuchstaben das Wort „L‘EMPIREO“, also das Paradies…
Wir erleben in „Calisto“ die gleichen Topoi, die auch bei Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ vorgeführt werden. Da ist einmal Merkur als Freund und Helfer Jupiters bei allen Schweinernen zur Unterstützung des Chefgottes dem Loge ähnlich. Aber auch Mozart hat diesen Topos, was die Oper betrifft, schon im „Don Giovanni“ mit dem Verhältnis Leporellos zu Giovanni als gefügigem Diener seines Herrn aufgegriffen. Dann ist da die fürchterlich zeternde Ehefrau Jupiters, Juno, die wie Fricka in der „Walküre“ für die Einhaltung der ehelichen Treue steht, hier aber statt auf den Walkürenfelsens hinauf vom Olymp herunter in die Ebene kommt, um Jupiter (nicht nur) bei der erfolgreichen Verführung Calistos zu gewahren. Diese ist allerdings, da er es nur im Gewand ihrer Herrin Diana schafft, homoerotischer Natur. Dass dennoch plötzlich ein uneheliches Kind zur Welt kommt, ist zumindest mythologisch nachvollziehbar. Denn als Jupiter Calisto zum Großen Bären (Urso Mayor) an den Himmel gebracht hat, soll er ihr gemeinsames Kind zum Kleinen Bären (Urso Menor) gemacht haben. Aber der Gott vergnügt sich ja auch noch mit einigen Nymphen, die hier in Madrid recht fesch in Erscheinung treten. Somit wird uns bei Alden eine überaus menschlich orientierte Interpretation der Oper gegeben, was auch verständlich macht, dass sie seit ihrer Wiederentdeckung 1970 in Glyndebourne, also nach über 300 Jahren (!) wieder öfter gespielt wird.
Der GMD des Teatro Real, Ivor Bolton, dirigierte mit viel Feingefühl das Ensemble Monteverdi Continuo und das Barock-Orchester von Sevilla sowie die Trompeter des Hausorchesters des Real. Man konnte zu jedem Moment merken, dass diese Musiker sich in der Barockmusik bestens auskennen und wohlfühlen. Dafür erhielten sie am Schluss mit dem Dirigenten auch großen Applaus. Sehr schön waren immer wieder die Soli einzelner Gruppen und Instrumente herauszuhören. Und es gab durchwegs eine sicher nicht immer leichte, aber gute Abstimmung mit dem zeitweise quirligen Geschehen auf der Bühne.
Die Britin Louise Alder, die u.a. schon bester Young Singer bei den International Opera Awards 2017 und seit 2014 fest in Frankfurt/Main engagiert ist, sang und spielte mit großer Emphase die Calisto mit einnehmendem Engagement und einem ebenso leuchtenden wie klangvollen sowie in allen Lagen sicher geführten und wortdeutlichen Sopran – eine Idealbesetzung! Der italienische Bass Luca Tittoto als Jupiter zeigte wohl alle darstellerischen Facetten der so vielseitigen und immer wieder in totale Komik abgleitenden Rolle des Jupiter. Irgendwie kann man diesen Gott nicht ernst nehmen, wenngleich er immer wieder elegant sein Potenzial zeigt. Tittotos Bariton war dabei für diese Rolle gut geeignet. Sein Merkur Nikolay Borchev stand ihm mit einem etwas rauen Bariton und viel schauspielerischem Talent gekonnt zur Seite. Bei den Herren konnte jedoch der junge britische Countertenor Tim Mead als Endymion am meisten begeistern, der mit einem perfekt intonierenden und charaktervollen Countertenor seine verzehrende Liebe zu Diana eindringlich darstellte. Am Ende wollte, bzw. musste er sich mit seiner Angebeteten (v.a. darstellerisch gut: Monica Bacelli), die auch das Schicksal im Prolog und eine der Furien sang) auf eine platonische Liebe einlassen, während Calisto von Jupiter als Sternbild Großer Bär für alle Ewigkeit an den Himmel gezaubert wurde („alle stelle!“)… Eine wahrlich zeternde aber dennoch stimmschöne Juno gab die kanadische Sopranistin Karin Gauvin, die mit ihrem Auftritt wohl jede Fricka einer noch so durchgeknallten „Walküre“-Inszenierung in den Schatten gestellt hätte. Kein Wunder, dass Jupiter sich da gern in Diana verstellte, also aus einem ganz unerwarteten zweiten Grund… Varietéartig ließ Paul Steinberg die Juno vom Olymp herabsteigen. Unter großem Glanz trat sie aus einer Art goldener Höhle hervor, geführt von zwei jungen Damen in Straußenfedern, die sie – wie über 200 Jahre später Fricka ihre Widder – mit der Peitsche traktierte. Davon wird sicher auch Jupiter schonmal etwas abbekommen haben… Gauvin sang auch noch die Ewigkeit im Prolog. Der bekannte französische, dunkel timbrierte Countertenor Dominique Visse, der in „L‘incoronazione di Poppea“ bei den Salzburger Festspielen 2018 eindrucksvoll die Arnalta verkörpert hatte, gab auch hier gelungene und teils ins Extreme reichende Charakterstudien der Natur im Prolog, des Satyrs und einer der Furien. Insbesondere als Satyr verursachte Visse einige Heiterkeit. Der belgische Tenor Guy de Mey gab eine drollige Charakterstudie der altbackenen Linfea, die immer noch glaubt, einen Mann bekommen zu müssen, bevor sie wirklich alt wird…
Der britische Tenor Ed Lyon sang den unruhsamen Pane mit kräftiger Stimme, und der italienische Bass Andrea Mastroni verlieh dem Waldgott Silvano einen der dunklen Waldstimmung entsprechenden vollen Bass, von Alden als Centaur dargestellt. Den Schluss bildete ein schönes Duett von Diana und Endymion über den Wert der platonischen Liebe, heute kaum noch so nachvollziehbar. Aber wir leben ja auch nicht mehr im Barock. Manches mag damals dennoch besser gewesen sein als heute…
Riesenapplaus im fast vollbesetzten Real, besonders für Alder, Tittoto und Mead sowie für Bolton mit den Musikern. Ebenfalls starker Applaus für das Regieteam.
Fotos: Javier del Real / Teatro Real
Klaus Billand 22.3.2019