Madrid: „Siegfried“

Spanische Premiere am 13. Februar 2021

Spanischer Wein aus bekannten Schläuchen

Vor einiger Zeit rief ich die mir seit vielen Jahren bekannte Pressechefin des Teatro Real in Madrid an, um in Erfahrung zu bringen, wie es mit ihrem „Ring des Nibelungen“ weitergehen würde, dessen „Walküre“ noch kurz vor Beginn der Covid-Pandemie gelaufen war. Ich war einigermaßen verblüfft, als sie mir Folgendes sagte: Man hatte eine hochrangige Spezialfirma die Hygiene-Möglichkeiten und die Einhaltung entsprechender Auflagen im Teatro Real analysieren lassen. Diese kam zum Ergebnis, dass man bis zu 75 Prozent Publikum zulassen kann. Man einigte sich letztlich auf 65 Prozent, immer noch eine hohe Zahl selbst angesichts der bulgarischen 30 Prozent-Lösung (hier mein Interview mit Kultusminister Boil Banov am 30. Oktober 2020). Aber was für ein Unterschied zu den sich für große Kulturnationen haltenden Deutschland und Österreich in dieser Zeit! Und das, ohne die kulturellen Beiträge Spaniens in irgendeiner Form in den Schatten stellen zu wollen – ein Land, das dem europäischen Abendland bisweilen unterschätzte Beiträge zu seinem kulturellen Werte-Spektrum gegeben hat.

Nun, mittlerweile hat sich ja herumgesprochen, dass alle großen Häuser auf dem spanischen Festland und sogar auf den Kanaren einem nahezu normalen Spielplan nachgehen. Dass das bis Ende der Saison auch so bleiben kann, erreichen sie durch ein fein ausgearbeitetes Hygienekonzept mit Maskenpflicht während der gesamten Zeit im Haus. Ein meines Erachtens vertretbarer „Preis“ für das, was wir doch alle endlich wieder haben wollen: Live Opernerlebnisse mit all dem, was sie so unverwechselbar mit Konserve oder stream macht. Ja, auch Applaus darf ausgiebig gespendet werden – ganz so wie immer!

So gibt es also noch leibhaftige Oper, ja sogar Wagnersches Musikdrama der ersten Sorte in der spanischen Hauptstadt! Das Teatro Real setzte nun mit dem „Siegfried“ seinen „Ring“ in der altbekannten Inszenierung von Robert Carsen fort, der sogar präsent war. Andreas Schager feierte einen ganz großen Publikumserfolg mit dem weitaus meisten Applaus. Den hatte er auch verdient mit einer beeindruckend charismatischen Darstellung des jungen Wagner-Helden, auch wenn hier und da etwas weniger Lautstärke gutgetan hätte und einige Spitzentöne auch mal leicht wegbrachen oder zu kurz gesungen wurden. Aber wer Schager als Sänger kennt, weiß, dass er immer alles gibt. Und das ist sehr viel. Dennoch würde ich besonders in seinem Fall wagen zu sagen, dass weniger mehr sein könnte und vielleicht eine längere aktive Zeit im soviel fordernden schweren Fach ermöglichen könnte.

Ricarda Merbeth konnte als Brünnhilde da nicht mithalten, zumal man bei ihr weiterhin fast kein Wort versteht und die Sängerin in erster Linie mit der Tonproduktion befasst ist. Damit bleibt einiges von der hier an sich wünschenswerten Empathie und der so viele psychologische Facetten enthaltenden Annäherung an Siegfried vorenthalten. Allerdings gefiel sie mir mit der ja höher liegenden „Siegfried“-Brünnhilde nun besser als mit ihrer Isolde in Brüssel 2019. Das finale hohe C gelang ihr sehr gut.

Unter den übrigen Sängern war Okka von der Damerau als Erda mit Abstand am besten, denn sie ließ einen perfekt geführten und ebenso wohlklingenden wie nuancenreichen Alt bei hoher Musikalität hören. Leider musste sie völlig rollenkonträr als Putzfrau mit einem Aufnehmer beim Dialog mit dem Wanderer den Bühnenboden wischen… Tomasz Konieczny war in der Rolle des Wanderers zwar besser als James Rutherford mit seinem Wotan in der „Walküre“ 2020. Er sang die Rolle aber zu monoton und weitgehend auf Lautstärke ausgerichtet, abgesehen von einer bisweilen weiterhin zu hörenden nasalen Tongebung. Von Legato auch kaum eine Spur… So konnte er als langsam vom Geschehen Abschied nehmender Gott, der bei Carsen allerdings nur ein abgehalfterter hochrangiger Armee-General ist – aber immerhin – nicht voll überzeugen.

Andreas Conrad war ein starker Mime mit intensivem Spiel, passender Mimik und einem variationsreichen Charaktertenor. Martin Winkler gab einen eindringlichen, seine Absichten intensiv vertretenden Alberich.

Aber auch er forcierte fast ständig und ließ es an vokaler Raffinesse missen. Jongmin Park sang den Fafner mit einem dunkel dräuenden Bass und überzeugendem Fatalismus. Leonor Bonilla zwitscherte – als einzige Spanierin – den Waldvogel, vielleicht etwas zu kräftig.

Einen besonders guten Eindruck hinterließ erneut das Orquesta Titular del Teatro Real unter der engagierten Leitung von Pablo Heras-Casado. Das Orchester bewies auch mit dem 2. Abend der Tetralogie, dass es die besonderen Dimensionen der Wagnerschen Musik eindrucksvoll auszuloten weiß. Eine – natürlich Corona-bedingte – interessante Besonderheit war, dass man, um im Rahmen eines intelligenten Hygienekonzepts mehr Platz für die mit Masken im Graben spielenden Streicher, Holzbläser und Trompeten zu schaffen, die Harfen links in die ersten vier Parterre-Logen setzte.

Damit konnte man die von Wagner für den „Siegfried“ gewünschten sechs Harfen aufbieten, was aus Platzgründen unten nur selten möglich ist. Und es sieht wunderbar und bewegend aus, wenn alle sechs in der Verwandlungsmusik zum Brünnhildenfelsen im 3. Aufzug zum Einsatz kommen und man gleich daneben sitzt. Sie wirken wie musikalische Segelboote, die im gleichen Bewegungsrhythmus dezent in einer leichten Meeresbrise vor sich hindümpeln und ihre harmonische Klangwelt entfalten… Das erlebt man nicht so oft! In den vier ersten Parterre-Logen gegenüber war das schwere Blech untergebracht. So ergab sich ein relativ ungewohnter, aber interessanter und intensiverer Raumklang im Saal.

Die Inszenierung von Robert Carsen und Patrick Kinmonth ist nach nun fast 20 Jahren schon fast eine Geschichte ihrer selbst. Es geht bekanntlich um die Verschmutzung, ja die Vergewaltigung der Natur durch den Menschen, was man besonders and den wahllos auf Augenhöhe abholzten Bäumen des eigentlichen „Waldes“ im 2. Aufzug sieht. So steht Carsens „Ring“ voll in der Crash-and-Trash-Tradition vieler „Ring“-Konzepte der letzten drei Jahrzehnte. Das ist zwar immer noch ein aktuelles Thema, aber heute vielleicht inszenatorisch schon anders und phantasievoller anzugehen.

Mit noch mehr Müll und Dreck als im ersten Aufzug des „Siegfried“ ist allerdings selbst in dieser Phase negativer „Ring“-Ästhetik nur selten umgegangen worden. Mime macht sich jedenfalls ein Vergnügen daraus, den überall herum liegenden Zivilisationsmüll auch noch in der Gegend herumzuwerfen. Das ist zeitweise durchaus gewöhnungsbedürftig. Auch ist der tote Waldvogel nicht ganz schlüssig, denn gerade der sollte ja das von Wagner beabsichtige Zeichen der Hoffnung in all diesem Wirrwarr sein, den Siegfried auch schon ohne den Müll gewahrt. Völlig zum Slapstick verkommt die Regie aber in dem Moment, wo der Regisseur Erda im Dialog mit dem Wanderer als schlampig bekleidete Putzfrau auferstehen und mit dem Aufnehmer gedankenlos den Bühnenboden schruppen lässt. Wenn alles nivelliert wird, dann nivelliert sich auch das Konzept!

Hinzu kommt bei Carsen aber schon seit der „Walküre“ die Betonung eines unerbittlichen und völlig skrupellos betriebenen Kampfes zwischen Wotan und Alberich infolge des Mega-Versagens Wotans im Streben nach Weltherrschaft und Machterhalt wider besseren Wissens durch die Wiedergewinnung des Rings. Das tritt nun auch im „Siegfried“ als zweite Konzeptionskomponente stärker und damit handlungstragender hervor, insbesondere in der Auseinandersetzung des Wanderers mit Alberich. Bei allen Für und Wider hat diese Produktion aber ein intensives Leben hinter sich und gastierte nach ihrer Entstehung in Köln von 2000-2003 mindestens in Venedig und zur Weltausstellung Shanghai 2010, wo ich den Zyklus zweimal erleben konnte, sowie nun Madrid. Also letztlich ein Erfolgsmodell!

Fotos: Javier del Real/Teatro Real 1-9; K. Billand 10

Klaus Billand/20.2.2021

www.klaus-billand.com