Wien: „Die Jungfrau von Orleans“, Peter Iljitsch Tschaikowski

Premiere: 16. März 2019

Zu den Tönen der Ouvertüre hebt sich der Vorhang über einer durchaus heutigen Küche. Ein hübsches junges Mädchen ist dort fröhlich tätig. Ein älterer Mann erscheint, kommt sofort zur Belästigungssache, findet keinen Widerstand, und wäre schon mit Beischlaf am Küchentisch beschäftigt, käme da nicht ein anderes junges Mädchen herein. Offenbar die Tochter, in Kapuzenjacke, auf der Suche nach einer Müsli-Schüssel – und begreiflich verärgert über den Papa. Wozu diese unangenehme Familienaufstellung gehören soll, würde man nicht vermuten: Zu Tschaikowskis Schiller-Vertonung von „Die Jungfrau von Orleans“ aus dem Jahre 1881…

Regisseurin Lotte de Beer ist wieder am Theater an der Wien. 2014 hat sie den „Perlenfischern“ eine verschachtelte Rahmenhandlung (Filmaufnahmen in Sri Lanka) gegeben. Diesmal ist sie (in der seltsamen Ausstattung von Clement & Sanôu) im Durcheinanderwirbeln der Ebenen noch wilder. Was sie erzählen will, wird so gut wie nie klar. Ein Traumspiel vielleicht, weil Johanna sich im Lauf des Geschehens verdoppelt? Das ist übrigens der Gag zu Beginn des zweiten Aktes: Für die Kampfszene schweben Johanna und Lyonel nämlich in den Lüften. Wo samma daham? Im Cirque du Soleil oder im Hongkong-Kino, wo die Helden auch immer so schön fliegen?

Also, wir haben die Küche, die sich dann wieder auflöst, und wir haben das Mädchenzimmer der Johanna von heute (mit Madonna-Poster): Das Stockbett mit den Stufen hinauf spielt als wiederkehrendes Dekorationselement eine Rolle. Durch ein Fenster stolpert plötzlich ein Ritter mit Rüstung. Das „Volk“ (sprich: der Chor, wer immer er sein soll) ist heutig gekleidet oder auch mittelalterlich. Oder auch, besonders drollig, im Sufragetten-Look. Dann schwenken sie Tafeln mit der Aufschrift: „Vote for Women“. Man muss dem dummen Publikum schließlich klar machen, dass es um ein Frauenstück geht.

Aber um welches? Wo gibt es ein Johanna-Schicksal? Wenn das Mädchen von heute in die historische Handlung gerät, wie es in den Teenie-Science-Fiction-Filmen immer wieder vorkommt? Wo ist die Handlung, wenn man – auf irgendwelchen braunroten Podesten – den Königshof nicht erkennt, wenn es auch am Ende keinen Flammentod gibt, sondern nur die Zweit-Johanna (jene, die zuerst in den Lüften geschwebt ist), die von der Erst-Johanna von dem Baum, an den man sie gefesselt hat, befreit wird und dann davon läuft – und unsere Heldin blickt, gänzlich unverbrannt, ins Publikum.

Schön für sie, aber was hat das Ganze mit Tschaikowskis Oper zu tun? Oder gar mit Schillers Johanna, nach der sich der Komponist schließlich selbst das Libretto (mit an sich nachvollziehbarer Handlung) geschrieben hat?

Immerhin versteht man, und daran ist weder Lotte de Beer schuld noch die am Pult der Wiener Symphoniker anteilnehmend waltende Dirigentin Oksana Lyniv, dass das Werk so selten gespielt wird. Johanna mag seine Lieblingsheldin gewesen sein, aber sie hat Tschaikowskis Inspiration nicht wirklich angezündet. Die Chöre klingen gut, machtvoll, kraftvoll – aber man hat kürzlich im Theater an der Wien (als russisches Gastspiel) konzertant „Mazeppa“ gehört: Das war doch etwas anderes. Natürlich, die Musik eines Könners ist die „Johanna“ allemale. Aber er konnte, wie wir wissen, besser.

Lena Belkina ist Johanna. Von der Statur her überzeugend, eine schmale junge Frau mit langem schwarzem Haar und flackerndem Blick, der von intensivem Leiden kündet. Sie singt, was sie soll, mit hellem Mezzo. Wirklich begeisternd ist sie nicht. Die Möglichkeit, den Abend von der Besetzung her hochzupuschen, besteht weder bei ihr noch bei den anderen Protagonisten.

Der ursprüngliche Bauern-Papa erscheint hier übrigens im heutigen Gewand (kariertes Sakko, er liest „Le Monde“) und dürfte eine Art Priester geworden sein, mit dem Anflug eines solchen Kragens und einem Kreuz um den Hals. In die Historie darf er sich bloß nicht verirren, denn dort hätte er keine Tochter haben dürfen – im 15. Jahrhundert gab es noch keine Protestanten. Willard White donnert stimmlich nur gelegentlich, im übrigen bleibt die Familie bei ihm und bei Raymond Very als Johannas Verlobtem unauffällig.

Dafür geht es am Königshof schrill her. König Karl VII. ist Dmitry Golovnin mit Brille und durchdringendem Charaktertenor. Auch Simona Mihai als seine Agnès Sorel dringt in die Ohren, aber da gibt es keine Entschuldigung. Martin Winkler spielt und singt den Erzbischof von Reims (eine Rolle, die ihn unterfordert), und man weiß, dass er sich keine Übertreibung entgehen lässt: Er enttäuscht diesbezüglich auch diesmal nicht.

Als Liebhaber ist Kristján Jóhannesson im zweiten Teil eingesetzt, Daniel Schmutzhard gibt hart und klar einen bösen Krieger. Die restlichen Rollen werden immer kleiner – von Igor Bakan, der als Bertrand zumindest eine Szene hat, über Florian Köfler bis zu Ivan Zinoviev – das ist besagter Soldat in Rüstung, der plötzlich durchs Fenster des Mädchenzimmers kommt. Wie im Kinderkino.

Ja, und die Akrobaten. Sind wahrscheinlich Zirkuskünstler. Noch ein Stückchen Verwirrung in diesem so verwirrenden Abend. Auch der Chor muss nicht nur (sehr schön!) singen, sondern von Party bis wüstes Volk alles Mögliche spielen: Aber wann wäre der Arnold Schoenberg Chor (Leitung Erwin Ortner) je überfordert gewesen?

Es hat sich angehört, als hätte es beim Erscheinen des Leading Teams leise Proteste gegeben. Aber so viele Leute waren entschlossen, von Anfang bis zum Ende des Beifalls lautstark „Bravo“ durchzubrüllen, dass Andersdenkende gar keine Chance hatten.

Renate Wagner 18.3.2019

Alle Fotos: © Werner Kmetitsch / Theater an der Wien