Wien: „Roméo et Juliette“, Charles Gounod

Gounod war von Shakespeares Tragödie derart begeistert, dass er, nachdem er die siebensätzige Symphonie dramatique für Orchester und drei Chöre mit Gesangssolos seines französischen Kollegen Hector Berlioz 1839 gehört hatte, beschloss, selbst eine Oper über das größte Liebespaar der Literatur zu komponieren. Als Spezialisten für literarische Stoffe standen ihm, wie zuvor schon für seine Oper „Faust“ (1859), das Autorenpaar Jules Barbier und Michel Carré zur Verfügung.

© Monika Rittershaus

Die bekannte Handlung entrollt sich hauptsächlich im Dunstkreis der Capulets. Die verfeindeten Familien treffen lediglich im Finale des dritten Aktes aufeinander. Wie bei Shakespeare, so beginnt auch die Oper mit einem Prolog, der den Grundkonflikt der Handlung erklärt bzw. das tote Liebespaar zeigt. Die vom Film kommende französische Regisseurin Marie-Eve Signeyrole, die zuletzt im Vorjahr Händels Oratorium Belshazzar im MusikTheater an der Wien realisiert hatte, verlegt die Handlung in das Hollywood der 1990er Jahre. Die verfeindeten Familien sind hier Clans mächtiger Filmproduzenten. Capulet entspricht dem Regisseur Francis Ford Coppola, dessen Tochter Sofia Coppola wiederum Juliette, die in dieser Inszenierung durch das Filmen von sich und ihrer Umgebung alles wie in einem Tagebuch festhält. Es ist noch nicht die Zeit der Videotagebücher und der enervierenden omnipräsenten Blogs, wo es nur mehr gilt, möglichst viele Follower zu lukrieren… Man hat sich längst daran gewöhnt, dass schon die Ouvertüre bebildert werden muss, wohl aus Furcht, dass sich das Publikum langweilen könnte. „Prima l’immagine poi la musica e le parole!“ Der Einsatz von Livekameras, die das Geschehen auf der Bühne näher an das Publikum heranholen, wird nicht nur in dieser Produktion bis zum Exzess betrieben. Schon Frank Castorf greift ausgiebigst zu diesem Stilmittel, zuletzt an der Wiener Staatsoper in „Faust“ und gegenwärtig im Burgtheater in Thomas-Bernhards-„Heldenplatz“.

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Ich für meinen Teil greife da lieber zum altbewährten Operngucker, der mir die freie Wahl überlässt, welche Szene oder welchen Künstler ich gerne aus der Nähe sehen möchte… Die Regisseurin bereichert unser Wissen aber auch mit zahlreichen filmischen Zitaten, so gleich zu Beginn, wenn wir eine Fahrt auf einem US-amerikanischen Highway sehen, erinnert das sehr stark an den Vorspann des US-amerikanisch-französischen Psychothriller von David Lynch aus dem Jahr 1996 „Lost Highway“, eine weitere Autofahrt erinnert an das US-amerikanische Roadmovie mit Thriller Elementen „Thelma & Louise“ von Ridley Scott aus dem Jahr 1991. Und nicht zuletzt die Duschszene von Juliette erinnert frappant an den Filmklassiker „Psycho“ von Alfred Hitchcock aus dem Jahr 1960. Juliette wird als eine selbstbewusste und selbstbestimmte junge Frau von etwa 18 Jahren gezeigt, die sich, ebenso wie Sofia Coppola, erst von ihrem Vater emanzipieren muss, um letztlich durch ihren Scheintod auch die geplante Hochzeit mit dem Grafen Páris zu verhindern. Die berühmte „Balkonszene“ wird bei Marie-Eve Signeyrole umgekehrt vorgeführt, indem Roméo „oben“ steht und Juliette „unten“. Sie ist es, die bestimmt, die auswählt, auch ihren Geliebten, und sie ist bereits sexuell erfahren, zumindest wird das angedeutet, denn Frère Laurent ist hier, anders als bei Shakespeare, dem Clan der Capulets zugehörig und in Juliette verliebt. Vielleicht hatten beide auch schon intime Erfahrungen miteinander gehabt, bevor er sich entschied, Priester zu werden. Die tödliche Auseinandersetzung, bei der Tybalt Mercutio und daraufhin Roméo Tybalt tötet, wird als Autorennen in der kalifornischen Wüste, filmisch ausgetragen.

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Am Ende der Oper sehen wir keineswegs eine Familiengruft, sondern ein Sofa, auf dem die scheintote Juliette drapiert wurde. Aus ihrem komatösen Schlaf erwacht, gewahrt sie den sterben Roméo, beschließt ihm in den Tod zu folgen, schleppt sich zu ihrem silberfarbenen Jaguar und stirbt, sich selbst filmend, an einer Kohlenmonoxidvergiftung durch Auspuffgase… Fabien Teigné stellte eine sich ständig drehende Bühnenkonstruktion mit passenden Versatzstücken und Autos auf die Bühne und darüber Videowände, die immer wieder gehoben und gesenkt werden. Die Kostüme von Yashi Tabassomi sind den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts verpflichtet und während des Balls zu Beginn der Oper darf schon mal eine Dragqueen zur Choreografie des Finnen Joni Österlund mittanzen. Sascha Zauner verantwortete die abwechslungsreiche Lichtregie.  Mélissa Petit trägt die Handlung und erzählt bzw. filmt die Handlung aus ihrer Sicht mit höhensicherem Sopran, während Julien Behr als Roméo von der Regisseurin darstellerisch eher vernachlässigt wurde. Immerhin hat auch er einen tragfähigen jugendlichen Tenor. Der polnische Bassbariton Daniel Mirosław als Frère Laurent wird hier als früherer Galan von Juliette mit langen blonden Haaren vorgeführt, wozu seine etwas rauchige Stimme gar nicht passen wollte. Die englische Mezzosopranistin Carole Wilson gab eine rührige Amme Gertrude, die bulgarische Mezzosopranistin Svetlina Stoyanova einen burschikosen Stephano mit expressiver Stimme und der kanadische Bariton Brett Polegato einen resoluten Clanchef Capulet.

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Der polnische Bass Alexander Teliga war ein wenig präsenter Duc de Verone. Der kroatische Bassbariton Leon Košavić gefiel als agiler, gutaussehender Mercutio. Der US-amerikanische Tenor Brian Michael Moore ergänzte rollengerecht in der undankbaren Rolle des Tybalt. Ergänzt wurde das Ensemble noch durch den britischen Bariton Andrew Hamilton als Páris, den nordirischen Bariton Timothy Connor als Gregorio und den französischen Tenor Adrian Autard als Benvolio, die allesamt bemüht waren, ihren Rollen einigermaßen Profil zu verleihen.

Der von Erwin Ortner geleitete Arnold Schoenberg Chor sang und agierte in gewohnt bester Qualität. Der ukrainische Dirigent Kirill Karabits versuchte dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien vergeblich lyrisch schwelgerische Töne zu entlocken, vielmehr setzte er auf einen harten Gounod-Klang, der schon in Wagner-Gefilde vorstieß. Mich hat das weniger gestört, hatte doch der Abend dadurch von der musikalischen Seite keinerlei gefährliche Längen und es gab bereits zur Pause viel Applaus mit zahlreichen Bravorufen. Mit zwei Pop-Songs aus den 90ern am Beginn des 2. Aktes und noch einmal im 3. Akt sollte wohl die zeitliche Verortung des Geschehens nachvollziehbar gemacht werden, nur leider passten diese so gar nicht zu Gounods Musik. Dennoch: am Ende gab es großen Zuspruch zu dieser Produktion seitens des Publikums. Lediglich Céline Baril und Mariano Margarit, die die Live-Kameras bedient hatten, wurden ausgebuht. Für alle anderen Mitwirkenden gab es langanhaltenden Applaus und für das Liebespaar etliche Bravorufe. Ich kann mit dieser Inszenierung leben, möchte aber in der Zukunft bei einem Theater- oder Opernbesuch nicht ständig mit filmischen Reizen überflutet werden, auch wenn diese unter dem Begriff eines „Gesamtkunstwerkes“ subsumiert werden können.

Harald Lacina, 27. Februar 2024


Roméo et Juliette
Charles Gounod

MusikTheater an der Wien im MuseumsQuartier

25. Februar 2024

Inszenierung: Marie-Eve Signeyrole,
Musikalische Leitung: Kirill Karabits
ORF Radio-Symphonieorchester