Mit ihrem Projekt „Fokus ’33“ hat sich die Oper Bonn, der nun schon einer seit einigen Jahren bestehenden Tradition folgend, um das Genre der Oper im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts verdient gemacht. Nun hat im Rahmen dieses Projekts, freilich etwas später einzuordnen, Arnold Schönbergs Moses und Aron Premiere und setzt ein Ausrufezeichen hinter eine Reihe spannender Wiederentdeckungen. Nun ist dieses Opus Schönbergs nicht gänzlich in der Versenkung verschwunden, zuletzt wagte sich die Komische Oper Berlin an das Mammutwerk – und nun also Bonn. Was das Theater der Bundesstadt auf die Bühne bringt, ist in jeglicher Hinsicht beachtlich und ist ein dringendes Plädoyer für Werk und Musik.
Schönberg ging es in seiner nie fertiggestellten Oper, die jedoch trotz eines fehlenden dritten Aktes mühelos funktioniert, weniger um ein Historiendrama, wie es uns die Hollywood-Schinken der 50er und 60er vermitteln wollen. Hier geht es um eine Auseinandersetzung zweier Brüder, um Glaubenskonflikte um die eigene Weltsicht und die Positionierung zu einer Gesellschaft. In Bonn entfacht Lorenzo Fioroni einen rauschhaften Bilderreigen, dessen Sogwirkung durch die exzellente musikalische Seite nachdrücklich unterstrichen wird. Paul Zoller liefert hierfür ein Bühnenbild, trefflich bereichert durch die Kostüme von Sabine Blickenstorfer und die Videos von Christian Weissenberger, das gerade zu Beginn des Abends durch eine Kulisse gewordene „Fischaugen-Optik“ die Sehgewohnheiten des Zuschauers auf den Kopf stellt. Überhaupt spielt der Abend immer wieder mit Sehgewohnheiten, mit Erwartungen an Bilder, an Kunst und wird so zum Diskurs von Bildlichkeit – letztlich genau das, worum es in der Kernfrage zwischen Moses und Aron geht: Wie bildlich darf mein Gott sein? So beginnt der Abend mit unglaublicher Naivität, der man zunächst fast etwas Lächerliches attestieren möchte, wenn die Protagonisten gleichsam der Augsburger Puppenkiste mit Masken und marionettenhaft tänzelnd die Szenerie beleben. Doch was hier plump wirkt, entwickelt Sinn. Die Regie spielt immer wieder mit Extremen des bildlichen Ausdrucks.
So finden sich Anspielungen an Puppenspiel und grotesk überzeichneten Stummfilm, an Ölgemälde und Performancekunst. Und immer wieder ist Moses derjenige, der zum Spielball dieser merkwürdigen Bilderwelten wird, der sich doch der Bildhaftigkeit seines Gottes entziehen will und es nicht schafft. So gerät der zweite Akt auch zum szenischen, wenn auch in Szene ausgesprochen drastischen Höhepunkt. Während das Werk in der Szene um das Goldene Kalb einen wahren Blutrausch inklusive nackter menschlicher Opfergaben vorsieht, zeigt die Regie Moses in einem engen, weißen Raum. Er kämpft mit sich, er kämpft mit den wenigen Dingen, die bei ihm sind. Immer wieder fallen von oben Dinge in diesen engen Schacht in dem er vermeintlich wahnsinnig zu werden scheint, denn egal was er tut, während Gott ihm die zehn Gebote diktiert – alles wird bildlich. So scheint sich Moses in diesem gedanklichen Exzess beinahe um den Verstand zu bringen, wenn er versucht keine Bildlichkeit zu finden. Doch schnell sind zwei Latten ein Kreuz, der Torso eine Figur wird zum Symbol, ja, selbst, nachdem er sich alle Kleider vom Leib gerissen hat, hinterlässt er als Mensch mit Farbe besudelt Spuren in seiner Umwelt: Gott ist eben in allem und zeigt sich in allem. Eine Assoziation zur aus heutiger Sicht vielleicht etwas verbohrten Suche nach neuen Bildsprachen der Fluxus- und Performancebewegung, zum Wiener Aktionismus (man mag darüber streiten, ob ein Brückenschlag zum gedanklichen Ansatz der Zweiten Wiener Schule hier statthaft ist) drängt sich hier geradezu auf.
Dass dieser szenische Exzess überhaupt so brutal und heftig über die Rampe kommt, ist nicht zuletzt dem Ausnahme-Darsteller des Moses zu verdanken. Dietrich Henschel meistert sich durch die komplexe Sprechpartie und zeigt ein tiefgründiges Rollenporträt. Was bieder beginnt, endet in Ektase und Selbstzerfleischung in grandioser Unbändigkeit und Wildheit. Henschel zur Seite steht als Aron das Kölner Ensemblemitglied Martin Koch, das mit kraftvollem Tenor die teils schroffen Klippen der Schönbergschen Musik elegant umschifft und mit bemerkenswerter Textverständlichkeit den dem Volk gehorchenden, weichen, verstehenden, aber opportunistischen Religionsmittler gibt. Eine grandiose Leistung liefert der um das Vocalconsort Berlin ergänzte Bonner Opernchor in der Einstudierung von Marco Medved. Szenisch von einer bezwingenden Spielfreude getrieben, musikalisch im Klang so ausgewogen wie kraftvoll, so fein nuanciert wie exakt im Sprachduktus zeigt der Klangkörper, wo die Herausforderungen der Partitur liegen und wie man diese mit scheinbarer Leichtigkeit meistert. Nicht minder bemerkenswert ist die Leistung des Beethoven-Orchesters unter Leitung von GMD Dirk Kaftan. Aus dem Graben klingt es mit expressionistischer Manier mal scharf umrissen und mit viel Wucht, dann wieder filigran in der verschachtelten Tonsprache der Zwölftönigkeit blühend. Bühne und Graben ergeben stets ein absolut stimmiges Klangbild.
Am Ende des Abends, bei dem das Bonner Opernhaus leider viel zu leer blieb, braust tosender Beifall für alle Beteiligten auf. Diese Produktion ist mitreißend, beeindruckend, bewegend und letztlich ein wunderbares Gesamtkunstwerk, dass jedem empfohlen sei, der bereit ist sich auf Ungewöhnliches einzulassen. Dies sei angemerkt – wer zartbesaitet ist oder mit der expliziten Darstellung von Nacktheit ein Problem hat, der muss sich ggf. an einigen Stellen auf die Musik konzentrieren. Mit Moses und Aron zeigt die Bonner Oper einmal mehr, mit welch qualitativ ansprechendem Musiktheater sie ihr Publikum versorgt und verdient sich nicht zuletzt auch für das Projekt „Fokus ’33“ ein besonderes Lob.
Sebastian Jacobs, 15. Dezember 2023
Moses und Aron
Opernfragment von Arnold Schönberg
Premiere: 10. Dezember 2023
Besuchte Vorstellung: 13. Dezember 2023
Inszenierung: Lorenzo Fioroni
Musikalische Leitung: Dirk Kaftan
Beethovenorchester Bonn