Bremen: „Lulu“

Premiere am 27.1.2019

Im Irrgarten der Obsessionen

Alban Bergs unvollendet gebliebene Oper Lulu, zwei Jahre nach Bergs Tod 1937 in Zürich uraufgeführt, zählt zu den absoluten Meisterwerken des 20. Jahrhunderts und stellt große Anforderungen – an die Ausführenden und auch (immer noch) an das Publikum.

Den 3. Akt konnte Berg nicht mehr vollenden, er liegt nur als Particell vor. 1979 schuf Friedrich Cerha eine komplette Instrumentierung des 3. Aktes. Und in Bremen sorgte nun Detlef Heusinger für eine neue Fassung. Dazu führt er als zusätzliche Instrumente ein Theremin (elektronisches und berührungslos gespieltes Instrument), E-Gitarre, Synthesizer und Hammondorgel ein. Da klingt „bedrohlich“, aber diese Zutaten fügen sich überraschend gut in den jetzt reduzierten Orchesterklang ein, wenn man von den etwas geisterhaft wimmernden und surrealen Tönen des Theremins einmal absieht. Heusinger ist jedenfalls insgesamt eine klanglich und strukturell überzeugende Version gelungen, die Bestand haben dürfte.

Die Inszenierung von Marco Štorman zeichnet sich durch eine äußerst ästhetische, dabei abstrakte Sichtweise aus. Alle realistischen Zutaten bleiben ausgespart. Auch der Selbstmord des Malers und die tödlichen Schüsse auf Dr. Schön werden nur angedeutet, hier mit rotem Konfetti für das spritzende Blut. Das Bühnenbild von Frauke Löffel zeigt einen in ruhigem Tempo rotierenden Irrgarten mit beweglichen, teils durchsichtigen und teils spiegelnden Wänden. Es ist ein Irrgarten der Obsessionen, in dem sich Lulus Verehrer verlieren. Dieser Irrgarten wird im Verlauf des Abends immer durchlässiger bis nur noch das nackte Gestänge übrig bleibt. Die Männer sehen mit ihren schwarzen Anzügen (Kostüme von Sara Schwartz) alle gleich aus (auch die Gräfin Geschwitz) – wie Variationen von Dr. Schön, der in Lulus Leben die zentrale Rolle spielt. Schigolch ist in Štormans Inszenierung eine Art Spielmacher, dem auch die einleitenden Worte „Hereinspaziert in die Menagerie“ übertragen werden, die eigentlich der Tierbändiger zu sagen hat.

Mit Aujust (verkörpert von dem Tänzer Sami Similä) wird ihm ein Gehilfe an die Seite gestellt, der einen skurrilen Tanz in diesem Labyrinth vollführt. Lulu selbst ist in ihrem langen, hoch geschlossenen und geradezu züchtigen Kleid alles andere als aufreizend. Es sind die Phantasien der Männer, die sie zum begehrten Lustobjekt machen. Lulu zählt zu den rätselhaften, mystischen Operngestalten, wie etwa auch Carmen und Kundry, deren Charakter viele Deutungen zulassen. Bei Štorman ist Lulu weniger die gefühllose Täterin, vielmehr das Opfer, an dem die Männer allerdings bis hin zum Wahnsinn zerbrechen. Ihre Träume zerplatzen so wie die hier auch gezeigten Seifenblasen.

Štormans Konzept überzeugt zunächst durch die Konsequenz und Kühle der Bilder, durch Kunsthandwerk im besten Sinne. Allerdings trägt es nicht unbedingt drei Akte lang und wirkt gegen Ende etwas ermüdend, zumal die eigentliche Handlung nur schwer nachvollziehbar wird. Störend sind die immer wieder ins Publikum blendenden Scheinwerfer.

Die musikalische Seite ist atemberaubend gut gelungen. Allen voran begeistert Marysol Schalit in der Titelpartie. Ihre differenzierte Ausgestaltung fesselt mit glasklarer Stimme, die keine technischen Grenzen zu kennen scheint. Claudio Otelli verleiht mit seinem markanten Bariton den Dr. Schön außergewöhnlich starkes Profil. Aber auch Chris Lysack beeindruckt, wie er seinen Tenor mit berstender Expressivität führt. Beste Leistungen gibt es aber auch im restlichen Ensemble, darunter Loren Lang (Schigolch), Nathalie Mittelbach (Gräfin Geschwitz), Hyojong Kim (Maler/Prinz von Uahubee), Birger Radde (Tierbändiger/Athlet), Christian-Andreas Engelhardt (Prinz/Kammerdiener/Marquis) und Ulrike Mayer (Gardobiere/Gymnasiast).

Am Ende zeigt sich auch das Orchester auf der Bühne: Völlig zu Recht, denn was Hartmut Keil und die Bremer Philharmoniker an Spannung, Wucht und Klangraffinesse zu bieten haben, ist von überwältigendem Format. Es ist auch und besonders diese Leistung, die den Abend prägt.

Wolfgang Denker, 28.1.2019

Fotos von Jörg Landsberg