Dortmund: „Frédégonde“, Camille Saint-Saëns, Guiraud Dukas

Premiere am 20.11.2021 auch als Live-Stream über takt 1

Oper als Stummfilm mit Sologesangs-, Chor- und Orchesterbegleitung

Bei Musicals wundert es nicht, wenn mehrere Komponisten und Textdichter ein Werk gemeinsam schaffen. Bei Opern ist das selten, meistens aus der Not bedingt: Von seinem „drame lyrique“ „Frédégonde“ auf einen Text von Louis Gallet konnte Ernest Guiraud bis zu seinem Tod 1892 nur die ersten drei Akte und die nur unvollständig komponieren, die dann Paul Dukas instrumentierte. Camille Saint-Saëns komponierte dann den vierten und fünften Akt. In Zusammenarbeit mit dem Palazetto BruZane, Venedig, – Zentrum der französischen Musik der Romantik – wurde diese Oper als Deutsche Erstaufführung am vergangenen Samstag im Opernhaus Dortmund aufgeführt und als live-stream von takt 1 übertragen.

Allerdings war es nicht die erste literarische Bearbeitung des Stoffs, 1715 brachte die Oper am Gänsemarkt in Hamburg „Fredegunde“ von Reinhard Keiser zur Aufführung, Felix Dahn – mehr bekannt durch seinen „Kampf um Rom“ – schrieb einen Roman „Fredegundis“, nach dem Franz Schmidt eine Oper komponierte (UA Berlin 1922) Peter Hacks schrieb ein Drama über diesen Stoff, das 1989 am Staatstheater Braunschweig aufgeführt wurde – die Geschichte einer durch weibliche Reize und skrupellos gesellschaftlich aufsteigenden Frau ist für Männer häufig interessant!

Die Handlung spielt in Frankreich gegen Ende des 6. Jahrhunderts, als auf dem Gebiet der früheren Römischen Provinz Gallien die fränkischen Merowinger Königreiche errichteten, deren Herrscher alle miteinander verwandt waren und deshalb sich dauernd zwecks Vorherrschaft über die anderen bekriegten. So herrschte in Neustrien König Hilpéric mit seiner Frau Frédégonde, die durch Verführung, Intrigen und Anstiftung zum Mord an seiner ersten Frau und deren Kinder von der Leibeigenen zur Königin aufgestiegen war. Diese beiden besiegten dann die verwitwete Königin von Austrasien namens Brunhilda. Hilpéric beauftragte seinen Sohn Mérowig, die besiegte Brunhilda in ein Kloster zu verschleppen. Mérowig verliebte sich auf dem Weg in sie, heiratete Brunhilda und rief sich zum König beider Reiche auf. Hildéric besiegte ihn aber wiederum, verbannte Mérowig wegen Verrat an seinem Vater zusammen mit Brunhilda in ein Kloster. Dies reichte Frédégonde nicht, sie überredete den verliebten König, den Sohn wegen dieses Verrats anzuklagen und aus dem Land jagen zu lassen. Dem kam Mérowig durch Selbstmord zuvor, sodaß nun die Kinder von Frédégonde alleinige Thronanwärter wurden.

Regisseurin Marie-Eve Signeyrole hatte nun für Dortmund während des ersten Corona-Lockdowns eine dieser Situation angepaßte Fassung erarbeitet. Die Dortmunder Philharmoniker als emotionaler Träger der Handlung spielten auf der Bühne unter einer grossen Kinoleinwand, auf der die Handlung als farbiger oder schwarz-weisser Stummfilm mit allen kriegerischen, erotischen und gesellschaftlichen Facetten einschließlich Folterszenen gezeigt wurde, alles aufgenommen im Schloß und Park Bodelschwingh bei Dortmund. Das paßte zwar nicht in die Zeit der Merowinger, aber auch die teils prächtigen Kostüme, extravaganten Frisuren der Damen und Kronen auf den königlichen Häuptern (Kostüme Yashi) entsprachen eher der Entstehungszeit der Oper. Als Rahmenhandlung des Films sah man, wie die beiden Königinnen bei einem Schachspiel noch immer um Überlegenheit kämpften – Brunhilda als Verliererin gealtert, Frédégonde als Gewinnerin jung geblieben.

Der Opernchor Dortmund begleitete platziert im Parkett die Handlung mit aufmunternd kriegerischen Gesängen, Huldigungen für die jeweiligen Herrscher, aber auch einem langen katholisch anmutenden Vermählungszeremoniell von Brunhilda und Mérowig zum Ende des dritten Aktes, hier auch teils a-capella singend, dann auch vorbereitend auf die kommende Schlacht gegen Hilpéric (wie bei Lohengrin, abends Hochzeit am nächsten Morgen Kampf) Obwohl Sängerinnen und Sänger den Dirigenten nur in Monitoren sahen, klappte das zumeist erstaunlich gut (Choreinstudierung Fabio Mancini)

Das Publikum war auf die Ränge verbannt, von wo aus man den Film gut sehen konnte, der damit die Aufführung beherrschte, weniger wohl die Solisten, die vor Orchester und Filmleinwand an einer langen Tafel speisend in corona-passendem Abstand ihre Partien sangen, dabei auch szenisch die im Film zu sehende Handlung ein wenig verdoppelten. (Bühne Fabien Teigné)

Gesungen wurde wie eigentlich gewohnt an der Oper Dortmund auf hohem Niveau. Die ersten drei Akte handelten vor allem von der entstehenden und dann in Heirat endenden Liebe zwischen Brunhilda und Mérowig. Die erstere gestaltete Anna Sohn mit dramatischem, höhensicherem der jeweiligen Gefühlslage angepaßtem Sopran und dazu passender Mimik. Unklar blieb, ob sie wie ihre Rivalin die Liebe zu Mérowig nur als Mittel der Wiedereroberung der Macht einsetzte. Letzteren sang Sergey Romanovsky mit für französische Oper passendem Timbre und lyrischem Legato-Schmelz in den Kantilenen. So wurde das Liebesduett im dritten Akt zu einem Höhepunkt der Aufführung. Der weitere Höhepunkt war das Duett zwischen Frédégonde und König Hilpéric im vierten Akt – also des „bösen“ Paares. Hier gelang es Hyona Kim mit verführerischem bis zu tiefen Tönen ausdrucksstarkem Mezzo und dabei textverständlich den liebestollen König zum Prozess und letztlich damit zur Verurteilung seines eigenen Sohns zu überreden. Mandla Mndebele machte mit sicher geführtem Bariton ausdrucksstark diesen Stimmungswechsel des leicht verführbaren Mannes deutlich. Als Bewunderer und Begleiter von Brunhilda erfreute Sungho Kim als Dichter Fortunatus mit lyrischem besonders im Legato sicher geführtem Tenor. Mit gewaltigem Baß wenn auch wenig textverständlich warnte Denis Velev als Bischof Prétextat Mérowig bei seiner Hochzeit vor der Rache seiner Stiefmutter und verteidigte vergeblich gegenüber Hilpéric sein Kloster als Zuflucht der Geflüchteten, im Stimmcharakter doch erinnernd an den Oberpriester bei „Samson und Dalila“ Über einen profunden Baß verfügte auch Demian Matushevsky als Landéric, einem Vertrauten des Königs Hilpéric.

Wie gewohnt zuverlässig und überlegen leitete Motonori Kobayashi die Aufführung und ließ die Dortmunder Philharmoniker klanggewaltige Effekte auskosten etwa zur Einleitung der Hochzeitsfeier oder musikalische Feinheiten der Partitur aufzeigen. Betreffend letztere würde man anmerken, wenn man es nicht anders gewußt hätte, dass der Komponist sich in den beiden letzten Akten musikalisch gesteigert hätte, was Farbigkeit, süffige Harmonien und dramatische Effekte des Orchesterklangs betraf oder dass die Sänger sowohl melodiösere als auch längere ausdrucksvollere Gesangslinien singen konnten. Dies lag ja wohl an der doch grösseren kompositorischen Meisterschaft von Saint-Saëns.

Aufgeführt wurde diese mehr als hundert Jahre vergessene Oper nicht nur zum 100. Todestag von Saint-Saëns, sondern, wie Intendant Germeshausen in einem Interview in der Pause betonte, auch im Rahmen des die Aufführung des „Ring des Nibelungen“ begleitenden Wagner-Kosmos, nicht nur, weil eine „Brunhilda“ vorkommt, sondern weil alle drei beteiligen Komponisten in unterschiedlicher Weise vom nach Wagners Tod in Frankreich verbreiteten „wagnérisme“ beeinflußt waren.

Das corona-bedingt in die Ränge verbannte Publikum spendete zur Pause trotz der vorangegangenen grossen Hochzeitsszene etwas mässigen Applaus, nach dem dramatischen Schluß dafür aber umso mehr und andauernd.

Der live-Mitschnitt ist noch bei takt 1 zu erleben

Sigi Brockmann 22. November 2021

Fotos Björn Hickmann stage picture