Dortmund: „La Boheme“, Giacomo Puccini

Am Ende schreit der verzweifelte Rodolfo seine erschütternden „Mimi-Rufe“ über die Dächer des nächtlichen Paris und seine Freunde stehen stumm um die schlichte Badewanne, in der die tote Mimi liegt. Allein für dieses Moment-Bühnenbild, dieser weltweit so oft aufgeführten Oper von Giacomo Puccini, lohnte es sich schon eine begeisterte Rezension zu schreiben. Was die Oper Dortmund hier im besten Sinne des Wortes auf die Bühne gezaubert hat, war teilweise überwältigend schön anzusehen und musikalisch großartig umgesetzt. Gil Mehmert, renommierter Musical-und Operettenregisseur, hat mit dieser Operninszenierung mitten ins Herz getroffen. Ich muss sehr, sehr lange zurückdenken, eine solch stimmige und berührende La Bohème in einem Opernhaus erlebt zu haben. Der große Jubel des Premierenpublikums war absolut gerechtfertigt. So schön kann Oper sein!

(c) Björn Hickmann

Die Geschichte der vier Freunde Rodolfo, Marcello, Schaunard und Colline, allesamt recht erfolglose Künstler, die mit ihren jeweiligen Begabungen ein ärmliches Leben in ihrer Mansardenwohnung in Paris fristen, ist der Stoff aus dem Puccini seine Erfolgsoper La Bohème schuf. Trotz der Dauerebbe, die in ihren Portemonnaies vorherrscht, versuchen sie dem Leben auch schöne Seiten abzugewinnen. Wenn da nicht die Liebe wäre, die so vieles durcheinander bringt. Als der Poet Rodolfo seine stille und bescheidene Mimi kennenlernt, beginnt eine der schönsten und sentimentalsten Liebesgeschichten der gesamten Opernliteratur. Ganz im Gegensatz dazu das Paar Marcello, dem temperamentvollen Fassadenmaler und seiner Musetta, die lebenslustige und sich ihrer Schönheit und Begehrlichkeit stets bewussten Lebedame, die eigentlich unterschiedlicher nicht sein können. Aber es sind diese Unterschiede, die Puccini und seine Librettisten Luigi Illica und Giuseppe Giacosa in so vielen  Momenten dieser 1896 in Turin uraufgeführten Oper so fein herausgearbeitet haben. Diese ständigen Wechsel von Lebenslust, Übermut und Leichtlebigkeit hin zu Momenten voller Schmerz, Eifersucht und Tragik. Und es sind eben diese vielfältigen Gefühle, die Puccini so meisterhaft vertont hat, die für den dauerhaften und ungebrochenen Welterfolg dieser Oper stehen. Eine einfache Liebesgeschichte unter Pariser Bohémiens des beginnenden 19. Jahrhunderts, die doch in ihrer emotionalen Wirkung gewaltig auf die Herzen des Publikums zielt.

Es ist also doch noch erlebbar: Applaus für ein Bühnenbild, wenn sich der Vorhang öffnet! Verantwortlich für Bühnenbild und die klassischen Kostüme waren Jens Kilian und Falk Bauer. Puccini nannte seine La Bohème eine Oper in vier Bildern. Und so war jedes einzelne Bild dieser Dortmunder Neuproduktion ein Blick in die damalige Welt von Rodolfo und seiner Mimi. Die Oper spielt zur Weihnachtszeit und so beginnt auch das erste Bild mit leisem Schneefall, der auf die Dächer von Paris fällt. Die Wohngemeinschaft der vier Bohémiens wurde ähnlich einem gläsernen Gewächshaus noch auf das Dach des Hauses gesetzt. Das Leben der vier Männer spielte sich auf den Dächern von Paris ab. Ihre bescheidene Unterkunft bestand aus einem kleinen Zimmerkamin, einem schlichten Sessel und einer Metallbadewanne auf vier Füßen, die je nach Verwendung als Sitzmöbel oder auch als Bettersatz genutzt wurde. In ihr starb am Ende der Geschichte Mimi. Weich in der Wanne gebettet und mit ihrem ersehnten Muff gegen die Kälte ihrer Hände geschützt. Ein anrührendes Bild, dass seine Wirkung nicht verfehlte. Zuvor aber das üppige weihnachtliche Treiben im und am Cafe Momus, und im dritten Bild die eiskalte und winterliche Atmosphäre am Wirtshaus am Barrière d’enfer, in dem Musetta und ihr Marcello untergekommen waren. In diesen beiden Bildern der Oper nutzte Bühnenbildner Jens Kilian die technischen Möglichkeiten der Dortmunder Bühnentechnik, in dem er das Spiel auf zwei Ebenen verlagerte und gerade im dritten Bild (Barrière d’enfer) eine intensive Spielatmosphäre schuf. Jens Kilian und Falk Bauer schafften den optischen Rahmen für die ganz und gar dem Werk getreuen Regie von Gil Mehmert.

Gil Mehmert, dem Dortmunder Publikum seit Jahren bestens bekannt, legte sein Augenmerk auf die Protagonisten der Geschichte. Natürlich waren da die beiden höchst unterschiedlichen Liebespaare Rodolfo und Mimi und Marcello mit seiner Musetta besonders im Focus der Regie. Mehmerts Personenregie war auch die Regie der kleinen Gesten. Selbst im zweiten Bild der Oper, beim üppigen weihnachtlichen Treiben am Cafe Momus, wo sich die Bühne füllte, waren die beiden Paare stets im Mittelpunkt der Erzählung. Während sich Marcello in wilder Eifersucht über die scheinbare Flatterhaftigkeit seiner Musetta erging, wurde das Publikum gleichzeitig mitgenommen, dem innigen Beginn der Liebesbeziehung von Mimi und Rodolfo beizuwohnen. Mehmert hat gerade in diesem Bild aus seinem reichen Erfahrungsschatz als Regisseur schöpfen können. Aber nicht nur den vier Hauptpersonen der Oper galt das Augenmerk der Regie. Schaunard und Colline, die weiteren Mitbewohner der Pariser Männer-WG wurden von Mehmert in seine Inszenierung stark eingebunden. Ich denke hierbei an die sogenannte „Mantelarie“ des Colline, die so ergreifend, aber auch so entschlossen von Denis Velev dargeboten wurde.

Mit dem letzten Bild der Oper, der Moment in dem Rodolfo realisiert, dass er seine Mimi nun für immer verloren hat, hat Gil Mehmert einen Augenblick stärkstem Opernfeelings geschaffen, wie ich es höchst selten, – zu selten (!) -, in einem Opernhaus erlebt habe. Das ging schlichtweg tief unter die Haut und wurde zur Initialzündung für einen Premierenjubel, den das Dortmunder Opernhaus an diesem Abend absolut verdient hatte.

All das war der kongeniale Rahmen für die sängerischen und musikalischen Leistungen des Abends, die gemeinsam den Gesamterfolg dieser Premiere ausgemacht haben.

Anna Sohn als Mimi war ein Erlebnis! Sie spielte höchst überzeugend die scheue, anfangs sehr zurückhaltende Nachbarin Mimi, die auf der Suche nach Feuer für ihre erloschene Kerze auf Rodolfo trifft. In Mimik, Darstellung und Gesang eine ideale Mimi. Zunächst leise und zurückgenommen, begann sie die Arie „Sì. Mi chiamano Mimì“ um dann ihrer Stimme im weiteren Verlauf der Arie freien Lauf und höhensicheren Glanz zu geben. Großartig dann auch ihre Arie „D’onde lieta uscì“ im dritten Bild der Oper, in der sie von Rodolfo Abschied nimmt. Sicher einer der musikalischen Höhepunkte der Premiere. Das Publikum sah es genauso und feierte Anna Sohn für ihre Interpretation der Mimi.

Ursprünglich war für die Premiere Sergey Romanovsky in der Rolle des Rodolfo angekündigt. Er musste aus gesundheitlichen Gründen kurzfristig seine Premierenteilnahme absagen. Für ihn sang am gestrigen Abend dann der südkoreanische Tenor Sungho Kim diese anspruchsvolle Tenorpartie. Und wie er das tat! Er überzeugte mit leuchtenden Spitzentönen schon in seiner ersten Arie „Che gelida manina“, in der er seiner Mimi und dem Publikum ein höhensicheres „speranza“ ins Dortmunder Opernhaus schmetterte und im Verlauf dieser Szene zusammen mit Anna Sohn ein mitreißendes Duett „O soave fanciulla“ sang, an dessen Ende beide mit einem kraftvollen Spitzenton das Theater zum jubeln brachten. Gesanglich, aber auch in der Darstellung seiner Partie, war Kim absolut überzeugend. Sungho Kims Debüt als Rodolfo wurde vom Dortmunder Premierenpublikum lautstark gefeiert und es war berührend zu sehen, wie sehr ihn dieser spontane Jubel selbst überwältigt hatte.

Mandla Mndebele war Marcello. Was soll ich schreiben? Als jemand, der diese Oper so oft und in so vielen deutschen und internationalen Opernhäusern erlebt, so viele „Marcellos“ gesehen und gehört hat, kann ich nur eines schreiben: BRAVO für diese Gesamtleistung des südafrikanischen Baritons! Vom ersten bis zum letzten Moment der Oper war Mndebele auf höchst überzeugende Weise präsent, absolut stimmstark und mit vollem Körpereinsatz in der Rolle des Marcello. Die Oper Dortmund darf sich glücklich schätzen diesen Künstler von internationalem Format in ihren Reihen zu wissen. Und natürlich auch für den sympathischen Mandla Mndebele viele Bravorufe des Dortmunder Publikums.

(c) Björn Hickmann

Rinnat Moriah war als temperamentvolle, zickige, und später dann mitfühlende und sanfte Musetta in ihrer Darstellung hinreißend. Ihre berühmte Auftrittsarie „Quando m’en vò“ gestaltete sie zu einem wahren Kabinettstückchen. Sie spielte dabei virtuos mit ihrer Stimme, vermittelte durch ihren Gesang dabei ihre Gefühle von Eifersucht und auch Sehnsucht nach Marcello und überzeugte schliesslich in der Szene im dritten Bild als kokette und streitbare Musetta. Eine Musetta wie aus dem Opern-Bilderbuch. Tolle Vorstellung der israelischen Sopranistin, die auch vom Premierenpublikum entsprechend gewürdigt wurde.

Schon seit Jahren gilt Morgan Moody als Publikumsliebling der Dortmunder Opernfans. In so vielen unterschiedlichen Partien habe ich den kalifornischen Bariton über all die Jahre erlebt. Und immer wieder gilt eines: Morgan Moody ist immer eine Idealbesetzung in seinen jeweiligen Rollen. Als Schaunard, dem Musiker, sang und spielte er den meist positiv denkenden Mitbewohner, der mit seiner Kunst für ein wenig Geld in der Kasse der vier Freunde sorgte, mit Inbrunst und Überzeugung. Denis Velev als Colline, der Philosoph, komplettierte das Männerquartett in der Pariser Wohngemeinschaft und hatte mit seiner Mantelarie „Vecchia zimarra, senti“ im vierten Bild der Oper den bereits oben erwähnten ergreifenden und starken Auftritt.

Gil Mehmert gab den beiden kleineren Rollen des Vermieters Benoît und des Musettas Begleiters Alcindoro den Anschein von kauzigen älteren Schwerenötern, ohne dabei Klamauk mäßig zu überziehen. Ian Sidden und Hiroyuki Inoue setzten dies in ihren jeweiligen Partien hervorragend um. Błażej Grek, Tenor aus dem Opernchor Dortmund, rundete das „Trio“ der kleinen Partien als Parpignol in seiner auffallend glänzenden Kostümierung adäquat ab.

Großes Lob auch wieder einmal mehr für den Opernchor des Theater Dortmund, dem OpernKinderchor und Knabenchor der Chorakademie Dortmund (Choreinstudierung: Fabio Mancini) und die Statisterie des Theaters. Sie alle waren in die Inszenierung bestens eingebunden und sorgten mit zum großen Erfolg dieser Dortmunder La Bohème.

Am Pult der Dortmunder Philharmoniker stand der musikalische Leiter des Abends GMD Gabriel Feltz. Dass Puccini bei ihm in besten Händen war, wurde bereits mit den ersten Klängen der Oper deutlich. Sein künstlerisches Gespür für die vielen emotionalen Höhepunkte dieser Oper vermittelte er direkt seinem Orchester, welches ihm schwelgerisch, aber auch dramatisch aufspielend folgte. An keiner Stelle überdeckte das Orchester die Stimmen der Sänger auf der Bühne, was auch Zeichen dafür ist, dass mit Feltz ein Dirigent die musikalische Leitung hatte, der durchaus Sängerbegleitend- und unterstützend durch die Partitur führte. Feltz dirigiert Puccini – mittlerweile eine Visitenkarte für die Oper Dortmund.

Ja, Oper kann so sehr berühren, kann begeistern, kann Lust auf viel mehr Oper machen. Der Oper Dortmund ist das mit ihrer La Bohème gelungen! Für mich eine der überzeugendsten, aber auch visuell schönsten, Inszenierungen dieser Puccinioper, die ich in nunmehr vier Jahrzehnten sehen und hören durfte. Absolute Empfehlung an alle Fans der italienischen Oper!

Detlef Obens, 8. September 2023

Besonderer Dank an unsere Freunde vom OPERNMAGAZIN


La Boheme
Giacomo Puccini

Theater Dortmund

Premierenbesprechung vom 2. September 2023

Regie: Gil Mehmert
Musikalische Leitung: Gabriel Feltz
Dortmunder Philharmoniker