Freiburg: „Die tote Stadt“

Besuchte Aufführung: 8.2.2015 (Premiere: 17.1.2015)

Primat von Musik und Gesang

Trauerarbeit in surrealistisch-phantastischen Traumwelten

In diesem Jahr jähren sich zum 70. Male das Ende des Zweiten Weltkrieges und die damit verbundene Befreiung des deutschen Volkes von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Das Wirken der bornierten braunen Machthaber hat im deutschen Kulturbetrieb eine klaffende Wunde hinterlassen, deren Auswirkungen auch heute noch zu spüren sind. Was den Nazis als entartete Kunst galt und vehement verfemt wurde, waren oft hochkarätige Meilensteine im Wirken ihrer Schöpfer. So auch Erich Wolfgang Korngolds Oper „Die tote Stadt“, deren Uraufführung gleichzeitig an den Opernhäusern von Hamburg und Köln erfolgte und für die der Vater des Komponisten Julius Korngold unter dem Pseudonym Paul Schott – der Vorname entspricht dem der Hauptfigur der Oper, Schott ist der Name des Verlegers, bei dem das Werk herauskam – das Libretto verfasst hat. Wie so viele andere jüdischen Künstler musste auch Korngold aus Deutschland emigrieren. Seine außergewöhnlichen Qualitäten verhalfen ihm in Hollywood als Komponist von Filmmusiken zu großem Erfolg und bescherten ihm sogar den Oscar. Sein bestes und bekanntestes Werk stellt jedoch zweifelsfrei die „Tote Stadt“ dar, die jetzt am Theater Freiburg in einer Neuproduktion herausgekommen ist.

Michael Bedjai (Paul), Sigrun Schell (Marietta)

Florentine Klepper setzt bei ihrer Inszenierung nicht auf konventionelle, vordergründige Schauerromantik, sondern rückt die Handlung auf eine überzeugende psychoanalytisch-symbolhafte und surrealistische Ebene unter Einbeziehung von Sigmund Freuds „Traumdeutung“. Das von Martina Segna geschaffene karge Bühnenbild zeigt im Hintergrund eine Bretterwand, vor der rechts ein Turm aus verhüllten Möbeln aufragt und links das ebenfalls verschleierte Bild von Marie hängt. Hierbei handelt es sich um eine Phantasiewelt, während die Realität hoch oben auf der Wand verortet ist. Von dort schauen zu Beginn Frank und Brigitta, Bewohner der wirklichen Welt, auf die andere hinunter. Erster seilt sich schließlich zu Paul ab, der zu Beginn ebenfalls von einem Laken verdeckt wird, das er dann aber abwirft. Marietta entspringt seinem irrealen Wahn und ist damit kein Teil der Realität. Konsequenterweise darf sie auch nicht denselben Weg auf die Bühne nehmen wie der der Wirklichkeit verhaftete Frank. In die Rückwand ein großes, klaffendes Loch brechend, dringt sie unmittelbar in die phantastischen Traum-Gefilde Pauls vor. Dass ihr Besuch dort für sie tödlich endet, belegen symbolhaft die von Brigitta auf Befehl Pauls gebrachten Blumen: Nicht rote Rosen als Zeichen der Liebe, wie von ihrem Herrn gewollt, bringt sie, sondern weiße. Und letztere versinnbildlichen den Tod.

Sigrun Schell (Marietta)

Auf einer risikoreichen Grenzlinie zwischen noch zulässiger Trauer und ungesundem Wahn bewegen sich die Handlungsträger ungelenk und furchtsam fort, immer in Gefahr, vom Strudel der Wahnvorstellungen Pauls in den Abgrund gestürzt zu werden. Sie ist schon in höchstem Maße obsessiv, die krankhaft-psychopathische Umachtung Pauls, die sich immer mehr steigert und im zweiten Akt bei der von Marietta und ihrem Team nachgespielten Nonnenauferstehung aus Meyerbeers „Robert, le diable“ in ein sämtliche Grenzen zur Realität sprengendes, stark surrealistisches Bild von hoher Eindringlichkeit mündet. Der jetzt von einer riesigen Glocke dominierte Raum verliert seine Konturen, und die nach wie vor verhüllten Möbel und Gegenstände sowie von Adriane Westerbarkeys geradezu zauberhaft eingekleidete Traumgestalten schweben behende durch die Luft. Die Grenze zur gesunden Trauerarbeit ist eindeutig überschritten und mündet in den Wahnsinn des Protagonisten. Marietta wird zunehmend zur Projektionsfläche seiner unstillbaren Sehnsucht nach der toten Marie. Feuerbach lässt grüßen. Dass Paul ihr keine eigene Identität zugesteht und in ihr immer nur die Reinkarnation seiner verstorbenen Frau sieht, ruft schließlich ihren Widerstand hervor. Dieser findet während der ebenfalls nur in Pauls krankem Hirn stattfindenden Prozession in einem Coitus per Os der Tänzerin, wie die Mediziner dieses von der Regisseurin bewusst als Provokation des tief religiösen Paul eingesetzten, nicht gerade appetitlichen Sexspielchen nennen, seinen krassen Höhepunkt. Hinter das Ende setzt Frau Klepper ein Fragezeichen. Die Heilung Pauls von seiner krankhaften Trauer bleibt bei ihr Utopie. Im letzten Bild ertönen sämtliche Stimmen aus dem Off, während ein Double Pauls einsam und stumm um den immer noch verhüllten Möbelturm streift. Der Alptraum des Protagonisten hat keinen Abschluss gefunden, sondern geht weiter.

Ensemble

So weit so gut. Mit diesem durchaus überzeugenden Konzept kann man leben. Ein gelungener gedanklicher Überbau macht indes noch keine gelungene Inszenierung aus. Dafür sind auch gute handwerkliche Fähigkeiten erforderlich. Und daran mangelt es der jungen Regisseurin – zumindest im Augenblick – noch ein wenig. Insbesondere ließ sie eine spannungsgeladene, stringente Personenführung vermissen. Manchmal eintretende szenische Löcher vermochte sie nicht sonderlich gut zu füllen. Es gab Stellen, bei denen die Regie lediglich ein wenig an der gut aufbereiteten Oberfläche kratzte, dann aber nicht weiter in die Tiefe vordrang. Da ließ Frau Klepper schon manchmal die Zügel etwas schleifen anstatt sie straff anzuziehen. Bei aller Akzeptanz ihres durchaus ansprechenden geistig-innovativen Ansatzpunktes: Rein vom technischen Standpunkt aus betrachtet war ihre Inszenierung nicht sehr ausgereift und damit letztlich nur mittelmäßig. Schade.

Sigrun Schell (Marietta), Alejandro Lárraga Schleske (Fritz)

Im Graben hatte Johannes Knapp die musikalische Leitung von GMD Fabrice Bollon übernommen. Ihm gelang zusammen mit dem sich mächtig ins Zeug legenden Philharmonischen Orchester Freiburg eine geradezu rauschhaft-intensive Auslotung von Korngolds herrlicher Musik. Wunderbar gefühlvoll erklangen die an Puccini und Lehar gemahnenden Passagen. Hier erzielten insbesondere das Duett „Glück, das mir verblieb“, das Lied des Pierrot Fritz „Mein Sehnen, mein Wähnen“ und Pauls emotionaler Schlussgesang „O Freund, ich werde sie nicht wieder sehn“ eine emotionale Wirkung, die zu Tränen rührte. Die spätromantischen Elemente der grandiosen Partitur wurden vom Dirigenten und den Musikern trefflich herausgearbeitet, aber auch ihre impressionistischen Elemente wurden derart opulent und unter die Haut gehend vor den Ohren des beigeisterten Publikums ausgebreitet, dass man am Ende hoch beglückt den Theaterraum verließ. Dass die aus dem Graben tönenden wuchtigen Klangmassen teilweise etwas zu gewaltig gerieten und die Sänger etwas zudeckten, sei nur am Rande erwähnt.

Auf insgesamt hohem Niveau bewegten sich die gesanglichen Leistungen. Michael Bedjai hatte sich als Paul den Ansatzpunkt der Regie gut zu eigen gemacht und trefflich umgesetzt. Auch stimmlich vermochter er zu überzeugen. Mit seinem gut fokussierten, ausdrucksstarken Tenor bewältigte er die unangenehm hohe Tessitura der Rolle sehr achtbar und rang ihm auch schöne Differenzierungen und Nuancierungen ab. Dass hier und da mal die Intonation nicht so ganz stimmte, fällt angesichts seiner ansprechenden Gesamtleistung nicht ins Gewicht, ebenso wie einige kleine Abstriche, die man bei ihr in der exponierten Höhe machen muss, die insgesamt gute Leistung von Sigrun Schell in der Doppelrolle Marie/Marietta nicht schmälern konnten. Es ist schon beeindruckend, wie sie mit ihrem sonoren, gut verankerten und wandelbaren Sopran insbesondere bei der Marietta den regen Wechsel zwischen dramatischen, leichtstimmig-koketten und sehr emotional dargebotenen Stellen meisterte und zudem noch mit feinen Zwischentönen aufwartete. Auch darstellerisch war sie mit intensivem, verführerischem Spiel phantastisch. Einen nachhaltigen Eindruck hinterließ Alejandro Lárraga Schleske, der mit kernigem, elegant geführtem Bariton den Frank und den Pierrot Fritz sang. Einen sehr gefühlvollen, tief in sich ruhenden und geradlinig geführten Mezzosopran brachte Bernadett Wiedemann für die Brigitta mit. Solide präsentierten sich Susanna Schnell (Juliette) und Kyoung-Eun Lee (Lucienne). Bei den durch die Bank nur über ausgesprochen dünnes Stimmmaterial verfügenden Tenören Johannes Vondey, Christoph Waltle und Shinsuke Nishioka in den kleinen Partien von Gaston, Victorin und Graf Albert blieben einige Wünsche offen. Gut gefiel der von Bernhard Moncado einstudierte Chor.

Fazit: Ein wunderbares Werk, das den Besuch schon wegen der beachtlichen musikalischen und gesanglichen Leistungen lohnt.

Ludwig Steinbach, 9.2.2015

Die Bilder stammen von Rainer Muranyi