Freiburg: „Pelléas et Mélisande“, Claude Debussy

Claude Debussy, April 1902: Warum ich Pelléas geschrieben habe?
>Nach einigen Jahren leidenschaftlicher Pilgerfahrten nach Bayreuth begann ich, an der Lösung Wagners zu zweifeln, oder vielmehr, es schien mir, dass sie nur für den Spezialfall des Wagnerschen Genies tauglich sei. Wagner war ein großer Sammler musikalischer Formeln, er fasste sie zu einer Gesamtformel zusammen die als ursprüngliche Errungenschaft erschien weil man sich in der Musik schlecht auskannte. Und ohne sein Genie leugnen zu wollen, lässt sich doch sagen, dass er für die Musik unserer Zeit den Schlussstein bildet, ähnlich wie Victor Hugo, der die gesamte frühere Dichtung in seinem Schaffen einschmolz. Folglich sollte man seine Erkundungen jenseits von Wagner treiben und nicht in seinem Schlepptau.<

Claude Debussy, Dezember 1910: >Ich revolutioniere nichts, ich demoliere nichts. Ich gehe ruhig meinen Weg und mache, anders als die Revolutionäre, keinerlei Propaganda für meine Ideen. Ich bin auch kein Wagner-Gegner. Wagner ist ein Genie, doch auch ein Genie kann sich irren. Wagner verkündet das Gesetz der Harmonie, ich bin für die Freiheit. Die wahre Freiheit kommt von der Natur. Alle Geräusche, die Sie um sich herum hören, lassen sich in Töne fassen. Man kann musikalisch alles ausdrücken, was ein feines Ohr im Rhythmus der Welt wahrnimmt, die es umgibt. Gewisse Leute wollen sich zuallererst nach Regeln richten. Ich für meinen Teil will nur das wiedergeben, was ich höre. Es gibt keine Debussy-Schule. Ich habe keine Schüler. Ich bin ich.<(© Programmheft Theater Freiburg)

Diese Aussagen Debussys zu seiner Oper sind für das Verständnis des Werkes wesentlich, da sie für die musikalische Auffassung wesentliche Anmerkungen enthalten. Er suchte seinen eigenen Weg, welcher von Richard Wagner, von der Grande Opera a la Meyerbeer wegführte.

Die zwei von mir besuchten Produktionen in Basel und Freiburg unterscheiden sich in der musikalischen Auffassung in wesentlichen Punkten:

Das Sinfonieorchester Basel unter der Leitung von Erik Nielsen interpretierte die Musik Debussys im eher feinen impressionistischen Stil, ohne aber ins Süssliche zu verfallen.
Das Dirigat von Francis Bollon mit seinem Philharmonischen Orchester Freiburg setzt die musikalischen Akzente expressionistisch, dramatisch ein. Beide Auffassungen müssen als gelungen bezeichnet werden und beide Dirigenten haben die Intentionen Debussys bravourös umgesetzt.

Die Sängerinnen und Sänger in Freiburg haben die Anmerkungen des Komponisten über den Gesangsstil verinnerlicht und hervorragend auf die Bühne gebracht:
>Die Gestalter dieses Dramas wollen natürlich singen – und nicht in einer willkürlichen Ausdrucksweise, die aus überlebten Traditionen stammt. Ich wollte, dass die Handlung nie stillsteht, sondern ununterbrochen weitergeht! <
Debussy verzichtet also auf Koloraturen, verzichtet auf Stimmakrobatik. Im Gegensatz zur klassischen Oper begleiten die Sängerinnen und Sänger auf der Bühne das Orchester und nicht umgekehrt.
Der dem Rezitativ ähnliche Gesang erlaubt es dem Orchester, dem Dirigenten das volle Melos der Partitur auszuspielen, die Handlung musikalisch vorwärts zu treiben. Diese Zusammenarbeit zwischen Bühne und Graben hat in Freiburg auf eine Art geklappt, welch aufhorchen lässt.

Dafür verantwortlich ist auch die Regie von Dominique Mentha. Seine Personenführung ist makellos. Seine Arbeit vermeidet die in vielen Produktionen überbordende hektische Aktivität auf der Bühne, welche dramaturgisch meist unnötig ist und entsprechend von der zu erzählenden Geschichte ablenkt. Dazu kommt, dass die französische Diktion der Sängerinnen und Sänger sehr gut ist, man jedes Wort verstehen kann. Es ist festzustellen, dass der Regisseur aus einem zweisprachigen Schweizer Kanton, Bern, stammt und in einer effektiv zweisprachigen Stadt, Biel, Wohnsitz hat.

Das Bühnenbild, entworfen von Ingrid Erb und Sylvan Müller ist stimmig und erlaubt ohne Pausen die notwendigen Umbauten. Der Lichtdesigner Michael Philipp unterstützt dies auf unaufdringliche Weise.

Ein spezielles Kränzchen sei hier auch dem Dramaturgen Heiko Voss gewunden: Seine Arbeit zeugt von einem tiefen Verständnis des literarischen Werkes von Maurice Maeterlink und die musikalische Umsetzung durch Claude Debussy. Sein Essay im Programmheft
> DIE, HAND, DAS HAAR UND DIE BLUMEN DER STILLE< ist sehr lesenswert.

Pelléas wird gespielt und gesungen von John Carpenter. Seine Körpersprache, seine Mimik und Gestik unterstrichen den eher scheuen Charakter der darzustellenden Rolle. Auch sang er mit hervorragender Intonation.
Ein Kapitel für sich war wieder einmal Katharina Ruckgaber: In den Szenen mit Golaud spielte und sang sie, dank perfekter Personenführung, absolut überzeugend die unterdrückte Prinzessin. Ihre Körpersprache, ihre Mimik und Gestik unterstützen diesen Eindruck. Ganz anders in den Auftritten mit Pelléas: Hier überzeugte die Sängerin mit glänzender schauspielerischer Leistung und hervorragendem Gesang, perfekter Diktion und sauberer Intonation.
Georg Festl als Golaud mimte nur teilweise den starken Mann. Seine Zerrissenheit, seine gespaltene Persönlichkeit fand Ausdruck im Gesang und auch im Spiel.
Jin Seok Lee als Grossvater Arkel sang seine Rolle mit klarer Stimme, für meinen Geschmack an der kräftigen Grenze. Anja Jung als Geneviève überzeugte wie immer.
In weiteren Rollen waren zu sehen und zu hören: Seonghwan Koo als Hirte, Jongsoo Yang als Arzt und als Yniold Katharina Bierweiler. Das Mitglied des Cantus Juvenum Karlsruhe meisterte die nicht einfache Rolle mit Bravour.

Das zahlreich erschienene Premierenpublikum belohnte die Leistung des Freiburger Ensembles, des Philharmonischen Orchesters und seines Dirigenten mit dem wohlverdienten, langanhaltenden Applaus.

Peter Heuberger, 54.6.2019

© Rainer Muranyi