Hildesheim: „Peter Grimes“

Dicht und schlüssig

Während Benjamin Brittens Zeit in Amerika ab 1939 festigte sich einerseits die Partnerschaft mit dem jungen Tenor Peter Pears, andererseits errang er mit seinen Kompositionen neben vielen Erfolgen aber gerade mit seinem ersten Bühnenwerk, der Schuloperette „Paul Bunyan“ (1941), auch Fehlschläge. Nach kompositorischen Krisenzeiten und Depressionen fand er zu einem Stoff, der ihn zu seinem ersten Meisterwerk inspirierte, Gedichte von George Crabbe, der aus derselben Gegend stammte wie er. Im Gegensatz zu der im Crabbe-Text stärker herausgestellten kriminellen Energie des Peter Grimes, wird in dem Libretto von Montagu Slater vorwiegend auf dessen Außenseiterstellung verwiesen, der selber nie Liebe erfahren hat und sie daher auch nicht weitergeben kann. Hier steht Peter Grimes zwischen dem übermächtigen, bedrohlichen Meer, aus dem er seinen Lebensunterhalt zieht, und der Kleinstadt mit ihren Ritualen der Zugehörigkeit und gnadenloser Ausgrenzung alles Fremden, schließlich zwischen den aus der Ferne tönenden Rufen der Dorfbewohner und dem einsamen Nebelhornklang in einem desolaten Universum. Die Uraufführung dieser Fischeroper an der Küste Suffolks fand am 7. Juni 1945 in London statt.

Durch seine schlichte, raue Lebensweise wird Peter Grimes nach dem Tod seines ersten Schiffsjungen zum leichten Opfer der Verleumdung und Lügen der Dorfbewohner. Obwohl im Prolog der Richter ihn davon freispricht und einen Unfall anerkennt, will die Menge das nicht wahrhaben; es brodelt weiter im Dorf. Außer dem alten Kapitän Balstrode und dem Apotheker Keene will keiner Grimes helfen, als er mit schwerem Fang heimkommt. Keene verhilft ihm sogar zu einem neuen Schiffsjungen. Und dann gibt es da die verwitwete Lehrerin Ellen Orford, mit der sich Grimes eine Zukunft vorstellen kann, aber erst wenn er genug mit seinem Fang verdient hat, um durch Reichtum die lügnerischen Stimmen des Volkes verstummen zu lassen. Diese Zuversicht treibt ihn zunächst voran, bis er durch ein weiteres echtes Unglück auch den zweiten Jungen verliert: Gerade als sich eine Abordnung der Dorfbewohner Grimes‘ Haus nähert, schickt er ihn über die Klippen zum Strand; auf dem Weg herunter zum Boot stürzt der Junge tödlich ab. Grimes, der schon nach dem Tod des ersten Jungen Wahnvorstellungen hatte, verfällt nun noch mehr dem Wahnsinn und folgt schließlich dem Rat von Balstrode und Ellen, aufs Meer zu fahren und das Boot weit draußen zu versenken, um so dem ihn nun schon heftig suchenden Mob zu entgehen, der ihn lynchen will.

Albrecht Pöhl/Hans-Jürgen Schöpflin

Regisseur Frank Van Laecke gelingt mit Hilfe seines Ausstatters Philippe Miesch eine dichte schlüssige Inszenierung dieses Stoffes mit eindringlichen Bildern. Leicht verschiebbare Zwischenwände, die den jeweiligen Handlungsort vom Gerichtssaal über den freien Platz am Hafen mit weitem Meerblick bis zum Pub großzügig wirken lassen, geben Raum für die vielen Akteure. Spezielle Requisiten sind hier Stühle: Die Dorfbewohner bringen sich ihre Stühle jeweils selbst mit und ordnen sich locker zu Zuhörern oder Pub-Gästen. Ca. 50 Sängerinnen und Sänger (Opernchor und Jugendchor des TfN) tummeln sich so neben 12 Solisten auf der kleinen Bühne und schaffen von Beginn an eine Spannung von „Hat er nun oder hat er nicht …“, die durch das ganze Stück anhält. Sehr geschickt wurden auch die Zwischenspiele inszeniert, ohne den Faden abreißen zu lassen. Es wurde in einer neuen deutschen Übersetzung des Hildesheimer GMD Werner Seitzer weitgehend verständlich gesungen.

Isabel Bringmann/Hans-Jürgen Schöpflin

Leif Klinkhardt war der musikalische Leiter des Abends, der das aufmerksame Orchester zu differenziertem Musizieren antrieb, den aufpeitschenden Sturm und die Hetzchöre engagiert darzubieten, aber auch die leiseren Phasen in den wenigen Momenten echter Gefühle auszukosten. In der Titelrolle erlebte man eine ausgefeilte Darstellung von Hans-Jürgen Schöpflin, der seinen kräftigen Tenor als raubeiniger, brutaler Fischer entsprechend einsetzte, aber auch mit weich strahlenden Tönen aufwartete, wenn er von seinen Träumen sprach oder in dem kurzen Moment, wenn er den Jungen fast zärtlich ansang. Immer wieder folgten kurze Momente der Hilflosigkeit, wenn er zu erkennen schien, dass er z.B. Ellen zu hart angefasst hatte. Diese wurde von Isabell Bringmann ausgezeichnet gespielt, anrührend in ihrer Fürsorge um den Jungen und ebenso stets zaghaft um die Liebe Peters bemüht, den sie auch bei grober Zurückweisung nicht hilflos sich selbst überlassen wollte. Sängerisch konnte sie die unterschiedlichen Facetten mit sauberem, klarem Sopran ausdrücken; schwierige Tonsprünge in den Linien meisterte sie gekonnt. Leider war gerade bei ihr das Orchester, insbesondere die Bläser, manchmal zu laut. Albrecht Pöhl machte als Kapitän Balstrode gute Figur, der sich als einziger in dem kleinen Ort immer Respekt zu verschaffen wusste. Mit seinem durch alle Lagen gut durchgebildeten Bariton mit abgerundeter Höhe verstand er, sich stets Gehör zu verschaffen.

Die übrigen vielen Rollen waren typgerecht und solide besetzt: Da waren Christina Baader, Regine Sturm und Stephanie Lönne (Tantjen und Nichten), die sich gelungen mit Ellen zu einem Quartett in bester Richard-Strauss-Manier vereinten. Jan Kristof Schliep (Bob Boles), Uwe Tobias Hieronimi (Swallow), Konstantinos Klironomos (Pastor Adams), Peter Frank (Ned Keene), Piet Bruninx (Jim Hobson) und last not least Shauna Elkin-Held (Mrs. Sedley) als überall Mord und Totschlag witternde Miss Marple des Ortes boten eine rundum zufriedenstellende Ensembleleistung. Die Chöre (Achim Falkenhausen) entwickelten durch die vielen jungen Stimmen einen besonders frischen, auch teilweise geifernden Klang bei Klatsch, Lästerei und aufrührerischer Verfolgung. Das Premierenpublikum war begeistert. Zwei vereinzelte, völlig überflüssige Buh-Rufer wurden sofort übertönt.

Marion Eckels 13.11.2013
Fotos: Andreas Hartmann

Weitere Vorstellungen: 22.11. + 21.12.2013