Premiere: 26.1.2019
Für Tänzer bietet er wenig, für die Kunst absolut nichts und für das künstlerische Schicksal unseres Balletts einen Schritt weiter abwärts. So der Fachmann, der sich anlässlich der Uraufführung des „Nussknackers“ im Jahre 1892 in der St. Petersburger Gazette äußerte. Tatsächlich führt dieses der drei Meisterballette Peter Tschaikowskys nach wie vor die Statistik an. Kein Wunder: Auf die Frage, wieso die Hofer Zuschauer dieses Ballett besuchen sollten, sagte die Choreographin Barbara Buser: wegen der tollen Musik – und ihrer tollen Tänzer.
Die Choreographin und Chefin der Hofer Compagnie aber zeigt auch, dass es gerade mit diesem scheinbar so schlichten Stoff möglich ist, der Erzählung E. T. A. Hoffmanns vom Nussknacker und vom Mäusekönig neue – und sinnvolle – Varianten abzugewinnen. Der Stoff scheint unausschöpfbar, wie es nicht nur der in jedem Sinne fantastische Film vom „Nussknacker und den vier Reichen“ zeigt, den ein beglücktes Publikum im Winter in den Kinos sehen konnte: https://www.youtube.com/watch?v=k7BYHumPAuc. Hier war die Zuckerfee die „Böse“, deren gruselige Nussknackerarmee mit der Hilfe der Mäuse von Clara selbst bekämpft werden musste. In der grandiosen Nürnberger Aufführung stand, in der Inszenierung Goyo Monteros, eine ungezogene Clara auf der Bühne, die von ihrem Mentor, dem „Paten“ Drosselmeier, zu einem mitfühlenden und liebenden Individuum erzogen wurde: um den Preis von Drosselmeiers Kraft und Leben. In Hof ist Clara eine Waise, die sich im Traum ihre Mutter imaginiert: als gute Zuckerfee. Dies ist schon ein guter Coup der Aufführung, aber wenn man am Ende des Divertissements nicht nur Clara mit dem „Nussknacker“, also ihrem Traumprinzen, sondern auch die Mutter/Zuckerfee in einem doppelten Pas de deux mit Drosselmeier tanzen sieht, begreift man auch, wieso kein Vater auf dem Besetzungszettel steht: weil der „Pate“ (mindestens) ihr guter Traumvater ist – denn ihr Stiefvater (!) Stahlbaum ist, wenn auch nicht bösartig, so doch zu streng, um wirklich die Stelle des scheinbar abwesenden Vaters einnehmen zu können.
Doch hat sie mit Drosselmeier einen liebevollen Ersatz gefunden, der sich zwar als Puppendoktor – wie nur ein echter Psychologe – um den vom brutalen Bruder verletzten Nussknacker kümmert, aber ihr inmitten einer Familie, in der nur die Stiefmutter warmherzig ist, das Traumbild der verstorbenen Mutter nicht ersetzen kann. Dazu bedarf es der nächtlichen Fantasie – und wenn ihr am Ende der gute „Onkel“ seinen Neffen vorstellt, der zufällig wie der Traumprinz aussieht, vermischen sich, ganz wie in der Ästhetik E. T. A. Hoffmanns, Traum und Wirklichkeit auf ununterscheidbare Weise. Eine gute, eine schöne, eine liebevolle Idee: so wie das Opfer, das der von den Mäusen getötete Nussknacker für Clara bringen MUSS, um würdig zu sein, von Drosselmeier wieder zum Leben erweckt zu werden.
Dabei verzichtet das Theater Hof – ohne die die Geschichte, die sich Marius Petipa und Lew Iwanow damals auf der literarischen Grundlage ausdachten, je so radikal auszudeuten wie beispielsweise Goyo Montero – weder auf die eigene Interpretation noch auf das Divertissement, das zunächst als reine Showrevue verstanden wurde. In Hof beteiligt sich Clara mehr oder weniger stark an den einzelnen Nummern, verkriecht sich auch vorsichtig hinter einer von Drosselmeier herbeigezogenen, riesigen Kaffeetasse, wenn eine schöne Frau den Arabischen Tanz in derselben beginnt. Am Ende herrscht das pure Massenglück des finalen Grand Valse, in dem die Compagnie ein einziges schwingendes Bild kreiert. So verbünden sich zeitloser Konservatismus und erstklassiges Hand-, besser: Fußwerk: im anderen, dem Blumenwalzer, diesem herrlichsten Traum aller Tschaikowsky-Maniacs, gliedert die Choreographin die Gruppen, um das Paar, also Clara und den „Nussknacker“, nur an ausgewählten Stellen Raum zu geben. Gut so! Denn die Choreographin interessiert sich mehr für Details als fürs Pauschale, auch wenn sie in jenen Szene, in denen sie das gesamte Ensemble einsetzt, schöne bewegte Tableaus inszeniert.
Das Ensemble muss mit 14 fleissigen Tänzern auskommen, nur Clara, der Nussknacker und Drosselmeier bleiben Solisten. Riho Otsu tanzt eine mädchenhaft-naive junge Dame, Norbert Lukaszewski ist ein eleganter Prinz in blütenreinem Weiss, und Lukas Corrêa ist nicht nur dann gut, wenn das Pantomimische seiner Hauptrolle das Tänzerische dominiert. Die Mutter ist Elisa Insalata, die die unübersehbaren klassischen Schritte und Drehungen als Zuckerfee lupenrein exekutiert. Diese Choreographie kann, vor einem bürgerlichen Publikum, nicht den Anspruch haben, die Gattung neu zu erfinden, auch wenn es, bezogen auf die Stadt Hof und ihres spezifischen Publikums, „für das künstlerische Schicksal unseres Balletts“ einen Markstein darstellt, an den man sich vermutlich noch länger erinnern wird. Denn so viel liebevolle Erzählung, Charme und Grazie, klassizistische Heiterkeit und Poesie müssen einfach gewürdigt werden.
Dazu trägt auch das Bühnenbild Annette Mahlendorfs bei.Die Zeit ist in ihm das wichtigste Element, wenn die Lichter beim Auftritt der Schneekönigin herabtropfen, wenn sich die Rädchen der Uhr im Video drehen (einer Arbeit von Kristoffer Keudel). Die Uhr ist unübersehbar, wenn der Zauber beginnt – und mit dem mütterlichen Geschenk einer Uhr an Clara, die sich erinnert, beginnt der Abend über die Zeit und die Diskrepanz, die zwischen der zärtlichen Erinnerung, der Sehnsucht nach Geborgenheit und der Gegenwart liegt, die nur durch den Traum befriedigt werden kann.
Dies auch, weil die Hofer Symphoniker – wie immer, wenn sie unter ihrem Direktor Walter E. Gugerbauer spielen – schlichtweg brillant sind. „Für die Kunst absolut nichts“? Wenn Tschaikowsky derart nuanciert, mit den richtigen Tempi und mit dem vollkommenen Sinn für dramatische Höhepunkte und ebenso große Emotionen gespielt wird, während die Tänzer eine interessante Geschichte nicht spektakulär, aber interessant erzählen: dann ist das Glück des Ballettomanen vollkommen.
Frank Piontek, 27.1.2019
Fotos: © H. Dietz Fotografie.