Hof: „Maria de Buenos Aires“

Premiere: 28.1. 2022. Besuchte Vorstellung: 20.2. 2022 (Rosenthal-Theater Selb)

Die Zuschauer, vier Busse, gefüllt mit Mitgliedern der Theatergemeinde „Volksbühne“ und aus Bayreuth angedüst, sind begeistert. Dass Astor Piazollas und Horacio Ferrers „Tango-Operita“ so gut ankommt, obwohl sie auf den ersten Blick sperrig anmuten mag, weil die (in den Vokalpartien, nicht im Sprechpart) unübersetzte, hochpoetische Sprache des argentinischen Dichters zumindest dann unverständlich ist, wenn man nicht spanisch oder argentinisches Spanisch spricht – dass das einzige Bühnenstück des großen Tangoreformators Piazolla und seines langjährigen Weggefährten Ferrer das Publikum im Rosenthal-Theater berührt, obwohl „nicht alles verstanden“ wird: es ist auch ein Verdienst des Theaters Hof, das zum wiederholten Mal mit einem – zumindest in deutschen Landen – randständigen Meisterwerk beweist, dass auch und vielleicht gerade mit etwas anderen Stücken viele Theaterliebhaber erreicht werden können, die keine Theater- und Opern- und Ballettkenner im sog. eigentlichen Sinne sind.

Maria de Buenos Aires, der Titel ist schon christlich symbolisch; die Inszenierung verweist, darin nicht originell, aber folgerichtig, auf die biblische Maria, auf Leben, Leiden, Tod und Auferstehung. Werden Marias Herz und Körper von den „uralten Dieben“ und „Puffmüttern“ zum Tode verurteilt, wird sie so vom Ensemble getragen, dass ihre Arme ausgebreitet sind wie die des toten Christus am Kreuz: ein erster Tod, kein letzter, denn der Schatten der Getöteten darf / muss weiter durch die Stadt wandern, in der sie unerlöst und identitätslos umherirrt – was weniger christlich als symbolistisch anmutet.

Die Hure Maria umgibt ein undefinierbarer Schein von Unschuld und Heiligkeit. Kein Wunder: Sie ist eine argentinische Frau, die von zwei argentinischen, hochmusikalischen und schwer dichterischen Männern geschaffen wurde, bei denen sich das tiefe Verständnis für das Leiden der Prostituierten, in deren Umkreis der Tango recht eigentlich erfunden wurde, die leidenschaftliche Liebe zur Frau und der Machismo, in deren System die Frau letzten Endes Opfer der männlichen Begierden ist, zu einer uintrennbaren Mischung vereinigten. „Maria de Buenos Aires“ entwirft allerdings keine platte Passionsgeschichte, in der eine simple Beziehungsgeschichte im sozialen Prekariat im Mittelpunkt steht. „Maria de Buenos Aires“ ist eine geheimnisvolle Parabel, durchmischt mit Elementen der Mystik und einer zur Kunst gewordenen Realität, letzten Endes der Traum von einer Maria aus Buenos Aires. In Hof befindet man sich – auch dies ist herkömmlich und stimmig – in einer „abstrakten Tango-Bar“, die einen Namen trägt: Café Victoria. Man sieht die Aussenseite auf einem der schönen alten sepiabraunen Fotos, die die Bühnengestalterin Annette Mahlendorf als Projektionsprospekte nutzt. Mahlendorf entwarf auch die Kostüme; rouge et noir sind die Farben des Abends, der Weg Marias geht über Leben, Tod und Wiedererstehung, über Rot und Schwarz zu Rot. Der musikalische Leiter Michael Falk, die Sänger-Regisseurin Sandra Wissmann und die Choreographin Barbara Buser haben sich entschlossen, die Titelfigur in zwei Gestalten gleichsam aufzuspalten, sodass wir einerseits die singende Maria, andererseits die tanzende Maria bewundern dürfen – denn Maria de Buenos Aires ist als kleine Tango-Oper so etwas wie ein Opéra-Ballet mit einem zusätzlichen Sprecher, der Ferrers lyrische Prosa (es wäre unsinnig, während der Vorstellung alle Nuancen „verstehen“ zu wollen) in deutscher Sprache bringt. Am 20. Februar steht Jörn Bregenzer als „Geist“, in diesem Fall als Barmann, auf der Bühne; er sprang für Marian Müller ein, rettete damit so die Vorstellung wie Karsten Jesgarz, der neben seinen vier oratorischen, baritonal schön gestalteten Partien für Müller noch zusätzlich die Rolle des „uralten Anführers der Diebe“ übernimmt, was dem Abend einen Teil seines Reizes, ein wenig auch von seiner dramatischen Verständlichkeit nimmt. Es kann nicht anders sein wenn der Schauspieler und der Sänger mit schwarzen Kladden agieren müssen, aber, wie gesagt: Sie retten die Vorstellung.

Was wichtig bleibt, bleibt unmittelbar stark: Stefanie Rhaue singt mit ihrem klaren Alt die Maria, Irene Garcia Torres tanzt Maria. Manchmal begegnen sich, wie im Brief an die Bäume und Schornsteine, der Gesang und ein Solo, meist die Stimme und die Gruppenbewegung.

Barbara Buser lässt das Ensemble über weite Strecken im Buser-Stil. also klassischmodern bzw. modernklassisch tanzen, wobei der Tango nur einige wenige Elemente, nicht die Grundlage der choreographischen Arbeit bildet. Ochos und Medialunas begegnen, aber Barbara Buser verfiel glücklicherweise nicht auf die Idee, aus der Tango-Operita einen Tango-Tanzabend zu machen, ja: in einer der berühmtesten Nummern des Werks, Fuga y Misterio, begegnet die scheinbare Abstraktion der musikalischen Form der relativen Abstraktion der Gruppengestik. Bei mancher Hebe- und Tragefigur ist Montero nicht weit; wenn die Gruppe sich die solistischen Marias haptisch aneignet, wird die Grundidee, die alle Arbeiten des Nürnberger Chefchoreographen Goyo Montero beseelen, in „Maria de Buenos Aires“ und dieser spezifischen Tanz-Arbeit offenbar: Der Gegensatz zwischen dem Individuum und dem Kollektiv. Stefanie Rhaue wird von den 12 Tänzern, wenn es an Marias ersten Tod geht, kontrolliert gezerrt, die tanzende Maria wird zum Spielball einer so zärtlichen wie harschen Gruppenaktion. Die Puffmütter formieren sich mit ihren blutigen Mündern, schwarzen Kostümen und eruptiven Gesten zu einem Reigen der unseligen Geister, bevor der Auftritt der „Psychoanalytiker“ einen Zirkus auf die Bühne stellt, in dem die drei „trunkenen Marionetten“, ihrem Titel gemäß, eine besoffene Clownsnummer loslassen. Manche Tänze des ersten Teils, der in einer noch relativ realistischen Bar spielt, setzen sich aus kleinen Elementen zusammen, die den Nummern etwas Spielerisches, aber auch Fragmentarisches verleihen: so wie beim Tango Argentino, bei dem der Tänzer, noch weniger seine Partnerin, nicht weiss, wo er sich in fünf Sekunden befinden wird. Inmitten dieser choreographierten Improvisationen begegnen sich Mann und Frau am Nächsten; Abstoßungen der Kerle durch die Frauen nach den Tanzschritten und dem Schlussakkord – und auch dies ist von Montero wie aus dem sog. normalen Leben vertraut – sind die Regel, weniger die Ausnahme.

Der Geschlechterkampf aber ist nur eine andere Art der Begegnung, wie sie die Haupthandlung auf eine schlechthin argentinische Weise zeigt. Man muss einfach verstehen, dass das Bandoneon das Instrument des Argentino ist und es zutiefst logisch ist, dass es in dieser theatralischen Form eines Hyper-Tango die Rolle eines personalisierten Verführers einnimmt, das vom Geist zu einem Duell gefordert werden kann.

Man könnte auch sagen: Es ist „nur“ Poesie – aber auf einem hohen wie unverschnörkelten Niveau, das das Publikum, bei allen Rätseln des Werks, offensichtlich erreicht hat. Großes Lob also fürs Ensemble, die neun Musiker und Musikerinnen, die Tänzerinnen und Tänzer, deren Namen alle genannt werden müssten, weil sie, obwohl „nur“ Teil einer Compagnie, so individuell sind wie Maria von Buenos de Aires, die Besondere unter den Marias in Buenos Aires.

Frank Piontek, 21.2. 2022

Fotos: ©H. Dietz Fotografie