Koblenz: „Emilia Galotti“

Ein Klassiker klassisch! – Im Schauspiel kaum noch zu erleben

Lessings „Emilia Galotti“ hat Schiller bei dessen „Kabale und Liebe“ so stark beeinflusst, dass er bei seinem Stück die Figurenkonstellation und deren gesellschaftliche Verankerung weitgehend übernommen hat. Schillers Stoff hat aber mehr dramatischen Sprengstoff als die Emilia mit ihren abgesetzten und kontemplativen Passagen. Vielleicht ist deswegen und wegen der viel größeren Bühnenwirksamkeit der Intrige des Schillerstoffs dieser schon vor über 160 Jahren von Verdi vertont worden. Nun hat sich der niederländische Komponist Marijn Simons (*1982) auch des älteren Stoffs von Lessing angenommen – als Auftragswerk des Theater Koblenz, dessen Intendant Markus Dietze, das Libretto verfertigt hat. Es ist sicher ein großes Wagnis für ein Haus wie Koblenz, sich mitten in der Rheinprovinz zusammen mit einem ganz jungen Komponisten an eine Uraufführung zu wagen. Aber allein die erhöhte Medienpräsenz (wann berichtet der SWR schon zweimal vom Theater Koblenz?) lohnte das Wagnis für das kleine Haus; und – so viel kann man vorab bemerken – der Erfolg des Stücks und die Qualität der Produktion des Opernerstlings von Simons lohnten es auch.

Marijn Simons

Pars pro toto für die „niederländische“ Musik bezeichnet sich Simons als „Outsider“ der europäischen Musikszene. Außerhalb der Hauptstoßrichtung (wenn es eine solche überhaupt gibt) der zeitgenössischen Oper liegt auch die Themenwahl des Stücks: ein klassisches Stück mit durchgängiger Handlung! Das liegt doch weit entfernt von den reinen Psychotableaus und Kollagen, die heute bei Autoren und Theatermachern so beliebt sind. Allein, dass man sich an ein solches stoffliches und formales „Mainstreaming“ nicht hält, ist schon anerkennenswert. Aber in einem liegen Simons und Dietze ganz auf der heutigen Linie: das ist das Fernsehformat der Oper, die in gut 90 Minuten reiner Spielzeit abgehandelt wird. Da bleibt neben der zwar stark kondensierten, aber weitestgehend intakt gelassenen Handlung des Stücks mit immer noch sehr viel Text gar keine Zeit für Besinnung, moralische Wertung, Diskussion und psychologische Vertiefung, und auch die inneren Triebkräfte des Stücks bleiben unterbelichtet. Handlung und Musik nehmen bei dem Stück im vorliegenden Zuschnitt immer schneller Fahrt auf, fast atemlos rennt die Handlung des „bürgerlichen Trauerspiels“ mit immer größerer Spannung ihrem fatalen Ende entgegen. Die Ursache für diese Taschenformate ist nicht dramaturgischen Zwängen geschuldet; vielleicht der Ungeduld von Theatermachern und Autoren; gewiss auch nicht der Rastlosigkeit der Zuschauer, die auch heute noch größte Theatersäle bei Aufführungen von an die vier Stunden reiner Spielzeit füllen.

Familienbild; links: Kai Uwe Schöler (Conti/Maler); im Bild: Bart Driessen (Odoardo), Anne Catherine Wagner (Claudia); Juraj Hollý (Appiani), Irina Marinas (Emilia); hinten: Hana Lee (Orsina); rechts: Monica Mascus (Der Prinz), Christoph Plessers (Marinelli)

Lessing verarbeitete in seinem Stoff eine Legende um die Römerin Verginia, verlegte sie in seine Gegenwart des zu Ende gehenden Absolutismus; aber wegen der Zensur ließ er sie nicht in Deutschland, sondern in Italien spielen. Der Konflikt zwischen Adel und Bürgertum, die engen bürgerlichen Moralvorstellungen, die Selbstbestimmung eines Mädchens im „heiratsfähigen“ Alter oder dessen Unterwerfung unter gesellschaftliche Zwänge sind im 21. Jahrhundert in Europa nicht unbedingt mehr zugkräftige Stoffe. Es sei denn, man inszenierte den Stoff nicht im Übergang vom Absolutismus zur Aufklärung, sondern als solchen von der Aufklärung zurück zum Fundamentalismus… Der Regisseur Elmar Goerden hat aber dem im Stück vollzogenen „Ehrenmord“ keine Betonung verliehen und auf die Herstellung eines vordergründigen Zeitbezugs verzichtet. Vielmehr legt Goerden das Stück als zeitloses Kammerspiel mit viel szenischer Abstraktion an und lässt dazu von seinen Ausstattern (Silvia Merlo und Ulf Stingl für die Bühne und Lydia Kirchleitner für die Kostüme) ein holzschnittartige Schwarzweiß-Szenerie erstellen, auf der sich die Protogonisten durchweg in moderner schwarzer Kleidung bewegen. Lediglich Emilia wird durch das Design ihres Glockenrocks etwas frecher und mädchenhafter gestaltet; die einzige Farbe auf der Bühne bleibt der Blutfleck des ermordeten Grafen Appiani. Vielleicht soll mit diesem Schwarzweiß. aber insbesondere mit dem Schwarz der Kleidung eine gewisse Archaisierung des Geschehens erreicht werden.

Bart Driessen (Odoardo), Juraj Hollý (Appiani), Anne Catherine Wagner (Claudia), Irina Marinas (Emilia)

Goerden steht mit dieser stilisierten Ausstattung nur eine begrenzte Methode zur Bebilderung und Verdeutlichung der Handlung zur Verfügung. Aber er macht das durch eine stringente Personenführung wett und lässt dabei auch Personal über die Bühne huschen, von dem gerade nur gesprochen wird. Vermutlich hat das Theater an der Inszenierung länger als normal gearbeitet. Denn man erlebte eine selten zu sehende Perfektion in der Zeichnung der Protagonisten, die das Bühnenspiel passend zur musikalischen Charakterisierung perfekt umsetzten. Es muss viel Text transportiert werden, so viel, dass das mit einem vernünftigen Takt der Übertitelung nicht alles vermittelt werden kann; umso mehr sind die Darsteller nicht nur in der sprachlichen, sondern auch in der darstellerischen Umsetzung des Stoffs gefragt. Da Simons die Oper für die Koblenzer Besetzung geschrieben hat, war hier natürlich ohnehin ein überdurchschnittliches Ergebnis zu erwarten. Bemerkenswert die gute Textverständlichkeit aller Sänger.

Christoph Plessers (Marinelli), Hana Lee (Orsina)

Bemerkenswert ist die Abstufung der stimmlichen Lagen vom tiefen Bass bis zum höchsten Koloratursopran. Entgegen der den Damen geschuldeten Höflichkeit (wir sind im 21. Jhdt.) sei diesmal mit den tiefen Stimmen begonnen. Kai Uwe Schöler musste in der kleinen Rolle des Conti (Maler) mit seinem dunklen, mächtigen Bass bis an die tiefen Grenzen seines Stimmumfangs gehen. Die große Rolle des Vaters Odoardo forderte auch dem stets gut nuancierenden kraftvollen Bass von Bart Driessen einen großen Tonumfang ab; Driessen überzeugte dazu darstellerisch als Vater bis zur finalen Verzweiflungstat. Idealtypisch gestaltete Christoph Plessers die Rolle des Marinelli, des bösartigen Kammerherrn. Sein wendiger nobler Bariton und sein umwerfendes Spiel prädestinieren ihn für eine Anfrage, sollte das Stück nachgefragt werden. Für Ihren Kritiker seine bislang stärkste Vorstellung in Koblenz. Farbtupferartig waren den tiefen Stimmen auch Falsett-Töne zugeordnet, die sie unterschiedlich bewältigten. Juraj Hollý in der kleinen Rolle des Appiani hatte mit extremen Höhen zu kämpfen.

Hana Lee (Orsina), Bart Driessen (Odoardo)

Anne Catherina Wagner verlieh der dünkelhaften Mutter Emilias, Claudia, Gestalt und verlieh ihr ihre schlanke, klare und gut fokussierte Altstimme. Der Prinz Hettore Gonzaga ist als Hosenrolle angelegt. Monica Mascus gestaltete sie mit nonchalantem Charme und einem wunderbar wandlungsfähigem warmen Mezzo, dem sie schöne Tiefen und glühende Höhen entlockte; fast wirkte sie zu sympathisch in der Rolle des morallosen Prinzen. In der Titelrolle glänzte Irena Marinaș mit bewegendem mädchenhaften Spiel und betörenden Farben ihres leicht eingedunkelten geschmeidigen Soprans. Dazu punktete sie mit ihrer ansprechenden Bühnenerscheinung. An der nach oben nicht offenen Stimmenskala sang Hana Lee die Gräfin Orsina, welcher der Komponist extrem hohe Koloraturen zugeordnet hat. Virtuos und prächtig, ohne schrill zu wirken, meisterte Frau Lee diese fordernden Höhen, die auf einen hysterischen Geisteszustand der Gräfin schließen lassen könnten. Lees attraktives Erscheinungsbild gäbe keinen glaubwürdigen Grund dafür, dass sie der Prinz verstoßen hat.

Marijn Simons hat für die Oper durchaus originelle Musik geschrieben. Verschreckende Dissonanzen verwendet er kaum, dafür aber suggestive (tonale) Harmonik und eine Melodik welche die Charaktere seiner Protagonisten unterstreichen. Den Handelnden zugeordnete Motive durchziehen die Handlung und geben dem Hörer durch Wiedererkennungseffekte Halt. Mit der sehr farbenreichen Partitur wird mit einem klassischen Orchester mit Verstärkungen der Holzbläser, der tiefen Streicher und dem Schlagwerk sowie einem Akkordeon große Suggestivität erreicht, die an konkrete Programmmusik grenzt. Wie Simons selbst sagt, sind seine kompositorischen Mittel jeweils recht situativ angelegt. Enrico Delamboye lieferte mit dem Staatsorchester Rheinische Philharmonie ein sehr filigranes Dirigat ab und gestaltete zu den Kantilenen der Gesangssolisten die teilweise polyphon angelegten Orchesterlinien mit großer Genauigkeit. Zartheit des Ausdrucks und Pianokultur zeichneten sein Dirigat ebenso aus. Insgesamt wurde ein schöner Fluss der Musik erreicht; vielleicht hätten aber kontemplative instrumentale Retardierungen in der Oper dem Ganzen noch mehr Rundung verleihen können.

Das Publikum im nicht besonders gut besetzten Saal folgte der Aufführung konzentriert und spendete mehr als nur freundlichen Beifall. Der „Klassiker“ kommt in Koblenz noch am 20., 23., und 27.11, sowie 17.01. und 09.02. Danach darf man gespannt sein, ob das Werk nachgespielt wird.

Manfred Langer, 15.11.2014
Fotos: Matthias Baus für das Theater Koblenz