Premiere 06.09.2015
Subversiv-amüsante Inszenierung, hörenswerte musikalische Interpretation – und provokanter Denkanstoß über das Kunstformat „Oper“
Im Zentrum steht die Lichtgestalt, auf einer Kugel – wahrscheinlich der Welt – wandelnd. Dem Wahren, Guten und Schönen verpflichtet, wie es auf dem Fries über dem Theaterportal eingemeißelt steht. Der Befreier, Retter, Drachentöter. Typ Siegfried, der in dieser Oper Florestan heißt. Oder, perfekt passend zum heutigen Vormarsch selbstbewusster Weiblichkeit, Leonore. Grundsätzlich könnte es natürlich auch Lohengrin sein, der Heilsbringer. Aber weit und breit kein Schwan. Nur zwei riesige Lindwürmer, rechts und links zu Füßen des auraumstrahlten Helden. Der herabgelassene Schmuckvorhang des Theater Lübeck ist ein Prachtstück aus der Epoche des Jugendstils, bei dessen Betrachtung man mühelos ins Meditieren kommt.
Zum Beispiel darüber, welch enorme identitäts- und einheitsstiftende Bedeutung nicht nur diese Mythen, sondern auch die Musik im 18. und 19. Jahrhundert für die in zahlreiche Kleinfürstentümer zersplitterten deutschsprachigen Lande hatten. Und dass Retter und Befreier immer dann gebraucht werden, wenn eine Bedrohung vorliegt. Zuweilen ist die vermeintliche Gefahr allerdings lediglich Drohkulisse, fast wie im Theater. Man hält die Drachen, die feuerspeiend vor der Welt oder, schlimmer noch, vor der eigenen Haustür liegen, für real. Was eigentlich, sinnt der Betrachter irgendwann, sind heutzutage die Drachen, von denen man sich bedroht fühlen könnte?
Zu einer Antwort auf diese Frage kommt er nicht, weil der Vorhang dann doch, gegen Ende der Ouvertüre, hochgezogen wird. Was irgendwie auch schade ist. Denn in Lübeck könnten sie, im Prinzip, den „Fidelio“ komplett konzertant geben, nur mit Blick auf ihren Schmuckvorhang, den sie eh nicht bei jeder Produktion zeigen. Am Schluss hätte auch der fantasieunbegabteste Besucher begriffen, welche Bedeutung in dieser Oper für uns Heutige steckt.
Andererseits leistet das freigelegte Bühnenbild (von Ulrich Frommhold), wenn auch erschreckend öder Kontrast zur in die Höhe entschwebten Jugendstilherrlichkeit, durchaus wertvolle Hilfe, zum Wesentlichen vorzudringen. Denn die Bewacher – dazu sind salopp außer dem Pförtner Jaquino und Kerkermeister Rocco auch dessen Tochter Marzelline und die under cover hinzugesellte Leonore zu zählen – agieren sämtlich im Halbrund eines wandhohen Stahlzauns in einer Art Camp-Setting. Sie sind am Verdursten, halluzinieren womöglich, was keine schlechte Erklärung für ihr zuweilen merkwürdiges Verhalten liefert. Das dringend ersehnte Wasser wird ihnen endlich, in Plastikflaschen, von außen zugeteilt.
Dieses Schicksal der Abhängigkeit und des Ausgeliefertseins teilen sie übrigens mit den im dunklen Hintergrund, auf der anderen Seite des Zauns dahinvegetierenden Häftlingen. Es ist nicht klar, ob das Ganze in der Wüste spielt, aber die gesamte Bühnengesellschaft hängt offensichtlich saft- und kraftlos am Tropf, der absurderweise und quasi alternativlos ständig mit Sand befüllt wird. Ein Vergleich zum Subventions-Tropf, der die Einrichtung Oper am Leben hält, drängt sich flüchtig auf. Darauf jedoch scheint die Regisseurin nicht abzuzielen, jedenfalls nicht primär. Sondern vielmehr auf die durchaus interessante und geradezu philosophische Frage: Wer sind hier eigentlich die Gefangenen? Diejenigen, die hinter dem Zaun stehen, die, die sich in der vorderen Bühnenhälfte befinden – oder gar jene, die im Auditorium sitzen?
Die Alltagsgesellschaft hat mit den strikt abgezirkelten Zuständen auf der Bühne ja mehr gemein, als einem als Opernbesucher lieb sein kann. Dass alle zum Beispiel ständig, in Kleinkindmanier, an der Plastikwasserflasche nuckelnd durch die Gegend laufen. Dass leere Plastikflaschen, wie in wirtschaftlich schlechten Zeiten einst Zigaretten, zu einer Art Goldersatz mutieren. Oder dass es, außerhalb der Oper, noch andere Arten der Musik gibt, die keinesfalls als „klassisch“, bestenfalls als „Unterhaltung“ – und für empfindsame Ohren als veritable akustische Folter einstufbar sind.
Es liegt also durchaus nahe, die Qualen, die Florestan im Kerker angetan werden, in Form von verzerrten E-Gitarrenriffs zu verabreichen. Der passionierte Operngänger leidet da automatisch mit, der eine oder andere kann – süffisant – darüber lächeln. Und genau hierin liegt der vordergründig erkennbare einzige Makel dieser klugen Inszenierung: Sie übt Verrat an der Rockmusik. Die unerreichte Vehemenz und Leidenschaft des E-Gitarrenspiels, wie beispielsweise Jimi Hendrix es beherrschte, wie er den „Star-Spangled Banner“ regelrecht zerlegte oder schon den Eingangspart von „Vodoo Chile“ zur atombombenstarken Explosion brachte, verursachen dem Hörer zuweilen tatsächlich Schmerzen – aber diese Wirkung ist eine künstlerisch kalkulierte. Die wirklich guten dieser „Rock-Rebellen“ hätten einem unkonventionellen Revoluzzergeist wie Beethoven sehr gefallen – und zwar nicht erst im Stadium der Taubheit. Auch Partien des „Fidelio“, oder seine Neunte, sind stellenweise – beabsichtigter – musikalischer Sprengstoff. Leider klingt das, was in diesem „Fidelio“ an „Rockmusik“ ertönt, wie eine Parodie. Wie auch Jaquino, dem die Rolle des musikalischen Folterknechts zugewiesen ist, das Zerrbild eines Rockstars sein muss.
Rockmusik ist allerdings nicht das einzige, was Regisseurin Waltraud Lehner nicht ernst nimmt. Strenggenommen nimmt sie in ihrem „Fidelio“ so gut wie gar nichts ernst, aber sie macht das so subtil, dass es einige Zeit dauert, um es mitzubekommen. Im ersten Akt gibt es sogar eine Szene, die einen zu Tränen bewegt, wenn man sich wirklich darauf einlässt – und dies ist, wider alle Erwartung, nicht etwa der Gefangenenchor. Während Leonore unter nachtschwarzem Himmel die Hoffnung beschwört, haucht die einzig verbliebene Lichtquelle, eine aus dem Kerkerzelt herausscheinende mickrige Tranfunzel, ihr Leben aus. Ungeachtet ihrer flehentlichen Bitte verbleicht der letzte, nichtmal am Firmament, sondern auf dem Erdboden kauernde Stern dieser Müden. Es gibt nichts mehr auf der Szene, was im mindesten Zuversicht spenden könnte. Und dennoch hört sie nicht auf, sie in Worten zu beschwören. Für das stoische Ertragen dieser totalen Vergeblichkeit muss man sie, in dieser Inszenierung, vollauf bewundern, mit ihr leiden.
Nicht nur die Lichtverhältnisse auf der Bühne sind in diesem bewegenden Moment übrigens katastrophal. Um die Qualität der Luft ist es keinen Deut besser bestellt. Sie wird, durch eine unsichtbare Quelle, mehr und mehr geschwängert von schwefelschwerem Geruch, wie er bei intensiver Raketen- und Knallerzünderei entsteht. Wenn der dann auftretende Chor die wunderbare Luft besingt, die er endlich atmet, kann man im ganzen Auditorium nur den Kopf schütteln. Aber der Text, ebenso wie die Musik, legt es nahe, die ideelle Ästhetik zu genießen. Das tut man auch, lässt sich zumindest nicht anmerken, was wirklich los ist.
Das gilt auch für den Schluss, der die Gefasstheit des Zuschauers in anderer Weise fordert. Der Kerker wird zum Fest-, gar Himmelszelt, und aus der freigelegten Tiefe der Bühne tritt abermals der Chor an die Rampe. Nun gekleidet in schwarzer Robe oder schwarzem Anzug könnten dessen Damen und Herren für eine größere Zahl der im Auditorium Anwesenden (für den Prototyp des Opernbesuchers allemal) glatt als Doppelgänger durchgehen. Sie stehen da, als wären sie aus Holz und verziehen keine Miene, während sie von beglückender Freude, Freiheit und Liebe singen. Auch im Publikum sitzt alles stocksteif, obwohl musikalisch an dieser Stelle exaltierte Jubelstimmung herrscht. Wenn man öfter in die Oper geht, kennt man das Phänomen aus „Traviata“: Selbst beim Brindisi singt oder schunkelt keiner mit. Das gilt als unfein.
Aber im Finale des „Fidelio“ geht es um viel mehr als bloß gutes Benehmen. Da feiern die Menschen die humanistischen Werte ihrer Gesellschaft, die Brüderlichkeit, ihre in Erfüllung gegangene Hoffnung. Dabei müsste man mitjubeln, aufspringen und die Welt umarmen, nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Saal, und nicht erst hinterher, sondern im Moment des empfundenen Glücks. In wirklich guten Rockkonzerten passiert das. Aber nie in der Oper. Womit wir bei der tragischen Begrenztheit dieses ansonsten großartigen Kunstformats angelangt sind. In diesem „Fidelio“ wird sie gnadenlos decouvriert.
Die bunten Gestalten jedoch, die zu den letzten Takten das Zaungitter hochklettern, haben das in Musik und Text ausgedrückte Ideal von fern vernommen. Sie glauben, es auf der anderen Seite des Zauns tatsächlich zu finden. Wie sehr sie sich geirrt haben, werden sie spätestens dann merken, wenn sie einmal eine Opernaufführung besuchen.
Wer das nicht sehen will, muss den Lübecker „Fidelio“ dennoch unbedingt hören. Beethoven war keinesfalls grober Klotz, sondern ein äußerst vielschichtiger und entsprechend diffiziler Charakter. Dem „Beethoven-typischen“ symphonischen Geist seiner einzigen Oper werden Dirigent Ryusuke Numajiri und das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck ganz und gar gerecht. Die Herausforderung, die die Gesangspartien enthalten, da der Komponist wenig Rücksicht auf die Bedürfnisse der menschlichen Stimme nahm, meistern die Solisten allesamt bewundernswert gut (in den Hauptrollen Yannick-Muriel Noah als Leonore, Taras Konoshchenko als Rocco, Andrea Stadel als Marzelline, Daniel Jenz als Jaquino, Jean-Noel Briend als Florestan, JoachimGoltz als Don Pizarro). Wunderbar ausdrucksstark auch der Chor und Extrachor des Theater Lübeck.
Christa Habicht, 7. September 2015
Sämtliche Fotos: Jochen Quast