Lübeck: „Il prigioniero“ & „Suor Angelica“

Bravi unter Tränen

Mit Il prigioniero (Der Gefangene) von Luigi Dallapiccola und Suor Angelica (Schwester Angelica) von Giacomo Puccini stellt sich das Theater Lübeck der Herausforderung zwei Operneinakter verschiedener Epochen in einem Doppelabend miteinander zu vereinen. Das dramaturgische Wagnis, für das sich der scheidende Musiktheaterdramaturg Dr. Richard Erkens verantwortlich zeichnet, zahlte sich am Ende des hochemotionalen Abends aufgrund des sängerischen und darstellerischen Niveaus der Protagonisten, einer detailverliebten Regie sowie der gewohnt verlässlichen Leistung des Lübecker Orchesters unter der souveränen Leitung von Andreas Wolf aus.

Während Il prigioniero ein in sich abgeschlossenes Werk darstellt, steht Sour Angelica in konventioneller Aufführungspraxis in der Mitte des Triyptychons Puccinis zwischen Il tabarro und Gianni Schicchi. Das Lübecker Theater führt an diesem Abend zusammen, was thematisch zusammen gehört, so hat es den Anschein. Beide Werke behandeln die Thematik eines Mutter-Sohn-Verhältnisses und insbesondere die einzigartige Innigkeit der mütterlichen Liebe in einem Spannungsfeld privater Emotionen und politisch-gesellschaftlicher Zwänge, zwischen Hoffnung und Verzweiflung sowie Freiheit und Zuflucht.

Die Regisseurin des Abends, Pascal-Sabine Chevroton, hat gemeinsam mit ihrem Bühnenbildner Jürgen Kirner und der Kostümbildnerin Tanja Liebermann eine inszenatorische Verknüpfung beider Werke unternommen, die durch Transposition des Inhalts in die Moderne und einer Anpassung des Textes teilweise bemüht wirkt, letztendlich aber aufgrund der stringenten Umsetzung funktioniert und vor allem tief berührt.

Im Prigioniero öffnet sich der Vorhang für eine von verrosteten Schiffscontainern verstellte Szenerie, die dem geneigten Zuschauer auch im Bühnenbild Angelicas wieder begegnen soll. Die in Zwölftonmusik gefasste und in der Hinrichtung durch den Strick mündende Erzählung stellt insbesondere im Zusammenhang mit der abstrakten Interpretation des ersten Einakters schwer verdauliche Kost für das Publikum dar. Dies drückt sich auch im betreten wirkenden Zwischenapplaus vor der Pause aus, welcher die sängerisch und darstellerisch herausragende Leistung des Hausbaritons dennoch gebührend zu würdigen weiß.

Der seit langem im Lübecker Ensemble beheimatete Schotte Gerard Quinn, spielt den ausgemergelten Gefangenen mit einer berückenden Empfindsamkeit für seelische und physische Verletzlichkeit, die direkte Betroffenheit im Publikum evoziert. Trotz der strapaziösen Darstellung strahlt Quinns vokale Kunstfertigkeit jenen Hoffnungsschimmer in den Saal, der seiner Rolle als Freiheitskämpfer innewohnt. Er vermittelt gesanglich ebenso die Naivität eines Idealisten wie auch das dumpfe Grollen der Verzweiflung.

Der Mutter des Gefangenen, gespielt und gesungen von Carla Filipcic Holm, stellt die Regie eine scharf gezeichnete Mimik und Gestik in ihrer Arie über die albtraumhafte Gestalt Philipps II. zur Seite. Dunkel raunt das bevorstehende Schicksal in ihrem stimmlichen Ausdruck, präzise gesetzt schrill ihr Entsetzen. Das Zwiegespräch beider Akteure lässt Erinnerungen an die preisgekrönte Don Carlo Inszenierung Sandra Leupolds an diesem Haus mit eben jenen Darstellern aufleben. Mit symbolischer Intensität hebt die Beleuchtung den in seitlichen Containern postierten Chor hervor. Der von Richard Roberts gesungene Großinquisitor gerät vor den Partien Quinns und Holms ins Abseits. Jedoch wird er auch szenisch nicht ausdrücklich hervorgehoben, obgleich er den skrupellosen Geschäftsmann mit der passgenauen abschätzigen Kälte spielt und mit seinem Tenor sowohl den säuselnden Verführer als auch den abgeklärten Henker zielgenau zu treffen versteht.

Suor Angelica verortet sich zwar ebenfalls inmitten jener aus dem ersten Teil bekannten Schiffscontainer, das Bühnengeschehen spielt nun jedoch auf einem Flüchtlingsschiff, wie die Meeresprojektion im Hintergrund verheißt. Realismus in der Ausstattung und detailreicher Naturalismus im Spiel prägen eine Ganzheitlichkeit im Konzept Suor Angelicas.

Das Publikum wird im Vorspiel Zeuge des Abschieds zwischen vielzähligen Müttern (der Damenchor, solide geführt von Josef Feigl) und ihren Kindern (der Kinderchor einstudiert von Gudrun Schröder). Die in der Heilkräuterkunde bewanderte Angelica erscheint nun im Flüchtlingslager als medizinische Helferin, welche einzig ihrem eigenen Leid kein geeignetes Mittel entgegensetzen kann. Ihre Antagonistin – als Spiegel des Großinquisitors im Prigioniero – taucht in Gestalt der Zia Principessa, ihrer Tante, auf. In einer Stimmgewalt, die durch beeindruckendes Volumen in Kombination mit physischer Gefasstheit angsteinflößend sowohl das Opernhaus als auch das Publikum in Mark und Bein durchdringt, verkündet die Altistin Romina Boscolo der verbannten Angelica die vernichtende Botschaft.

Mit herzbewegender Authentizität gibt Carla Filipcic Holm, die das Lübecker Publikum bereits als Tannhäusers Elisabeth und Elisabetta in Don Carlo begeisterte, die verwaiste Mutter. Die Komplexität der Partie meistert die Sopranistin mit facettenreicher Klangschönheit und weiß mithilfe ihrer sicher geführter Stimme zwischen sanftem Wohlklang und durchdringender Dramatik zu changieren ohne ins Larmoyante zu entgleiten. Ihr natürliches Spiel höchster emotionaler Intensität während Angelicas Klage um die heimatlose Liebe zu ihrem verstorbenen Sohn macht die Mater Dolorosa direkt greifbar und fesselt das Publikum in bestürzter Anteilnahme. Man darf eine Künstlerin in ihrer Blüte bewundern, die sich vollständig einer Rolle hingibt, ohne etwas ihrer gesanglichen Professionalität einzubüßen.

Getragen durch Puccinis bis in die religiöse Verklärung reichende Musik löst sich die Bedrängnis im Freitod Angelicas und der erflehten Vereinigung von Mutter und Sohn in himmlischen Gefilden auf.

Mit sichtbarer Ergriffenheit nahmen allen voran Carla Filipcic Holm und ihr Bühnenpartner Gerard Quinn den anschließenden, ausgenommen stürmischen, Premierenapplaus und verdiente stehende Ovationen entgegen. Es bleibt zu hoffen, dass am Lübecker Theater trotz den drohenden Sparmaßnahmen auch weiterhin künstlerische Glanzpunkte dieser Qualität erreicht werden können.

Antonia Alexandra Söllner 14.4.15

Dank für die aussagekräftigen Bilder an Oliver Fantitsch

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