Lübeck: „Montezuma“

Besuchte Vorstellung: Premiere am 26. Januar 2020

„Barbaren, die Menschenopfer bringen“ – ein Opernprojekt am Theater Lübeck

Musik: Carl Heinrich Graun

Friedrich II. von Preußen ist eine der liebsten Projektionsflächen der Deutschen. Bemerkenswert ist die Tatsache, daß er sich selbst in dem Aztekenherrscher Montezuma (eigentlich „Moctezuma“) eine Projektionsfigur ausgesucht hat, um seine Angriffskriege als Präventivmaßnahmen im Rahmen der Selbstverteidigung zu legitimieren.

Um es gleich vorweg zu sagen: Im Theater Lübeck ist mit dieser Collage aus Grauns Oper mit dem Libretto des Preußenkönigs und Passagen aus Heiner Müllers „Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei“ nicht nur ein hochinteressantes Experiment gelungen. Die Produktion ist programmatisch und von der inhaltlichen Umsetzung ein Geschwister von „Christophe Colomb“ (noch drei Vorstellungen bis zum 4. April!); in beiden Fällen geht es um die Instrumentalisierung kolonialgeschichtlicher Inhalte und längst überfälliges kritisches Geraderücken eines fragwürdigen Librettos. Zudem wurde einem interessierten Publikum nahezu vergessene Musik präsentiert.

Ingo Kerkhof hat intelligentes Werkstatt-Theater abgeliefert, wobei eine historische Vorbildung wesentlich zum Verständnis beitrug. Die bewährten und immer stärker wahrgenommenen „Kostproben“, bei denen Regisseur und Dramaturg ein bis zwei Wochen vor der Premiere kostenlos in die Inszenierung einführen und man an der Probe einer längeren Szene teilhaben kann, sind eine ungemein hilfreiche Einrichtung des Lübecker Haues.

Um das komplexe Neben- und Übereinander verschiedener Darstellungs- und Bedeutungsebenen nicht zu überfrachten, beschränkten sich sowohl das Bühnenbild von Anne Neuser als auch die Kostüme von Britta Leonhardt auf Andeutungen und Zitate. Alles andere hätte die Konzentration auf die Inhalte gestört. So hatte man auf der Bühne Brandenburger Reet wachsen lassen, durch das sich die Darsteller raschelnd bewegten und das in seiner Schlichtheit jeglichen überflüssigen Exotismus ausschloß. Es gab nur zwei Hintergrundflächen, einfache Graphiken mit Himmel und Baumsilhouetten, die für den Tag im ersten und die Nacht im zweiten Teil standen.

Friedrich erschien in drei Gestalten, als kleiner Junge, als junger Prinz und alternder Herrscher (wunderbar bissig dargestellt durch die Schauspielerin Magdalene Artelt), mitunter gleichzeitig. Das war sinntragend, hatte doch die brachiale Erziehung des Soldatenvaters und -königs alles Sanfte und geschlechtlich Gesunde in seinem Thronfolger zerbrochen. Friedrich durfte nicht selbstverständlich ein kunstsinniger Schöngeist sein, der nun mal mit Frauen erotisch nichts anfangen kann. Seinen Neffen hatte er später nicht viel besser behandelt als sein Vater ihn, so etwas prägt das ganze Leben.

Daher durfte das Publikum auch in der ersten Szene am „Tabakskollegium“ teilnehmen, einer festen Einrichtung Friedrich Wilhelms I., die Alkohol, Nikotin und Testosteron zu gelungenen Abenden für die Herren machten. Einen unfreiwilligen Hofnarren gab es auch, den Historiographen Jacob Paul von Gundling, immerhin Präsident der Preußischen Akademie der Wissenschaften, und über Jahre hinweg Mobbingopfer des Königs und seiner Spießgesellen. Der Gelehrte aus Mittelfranken starb schließlich an seinen Magengeschwüren, eine Folge der jahrelangen Demütigungen und damit einhergehender Alkoholsucht.

Die Härte des Königs war ebenso die des Vaters und seine militärischen Erziehungsmethoden ließen in dieser Szene den kleinen Friedrich dem geschundenen Gundling sehr nahe sein. Das war aber verboten, ebenso wie die Liebe zu Hans Hermann von Katte, den wohl ebenso der Umstand einer „widernatürlichen“ Beziehung zu Friedrich wie der gemeinsame Fluchtversuch den Kopf kostete.

„Es gibt nichts Schlechteres als den Menschen“, sagt der desillusionierte spätere König in Müllers Text. Mensch ist er selbst. In die Geschichte des bei näherer Betrachtung wenig sympathischen Preußenkönigs sind hier die Szenen aus „Montezuma“ geschickt verwoben bzw. laufen die Stränge nebeneinander her. Das ist umso angemessener, als mit dieser Produktion die Ruhmsucht, Verschlagenheit und menschenmassenverschlingende Risikofreudigkeit von Friedrich, den man später „den Großen“ nennen sollte, entlarvt wird. Gerade die verlogene List ist eine Eigenschaft, die er in seinem Libretto den spanischen Kolonialherren unterstellt, die ihre Verschlagenheit und die millionenfachen Massaker an den Unterworfenen dadurch rechtfertigen, daß es ja nur „Barbaren, die Menschenopfer bringen“ seien.

Anspruchsvolle Unterhaltung schafft eine willkommene Abwechslung zwischen all dem Menschenmorden und so hat Friedrich fast zeitgleich mit Carl Philipp Emanuel Bach den Komponisten und Sänger Carl Heinrich Graun an seinen Hof geholt. Den schickte er nach Italien, um dort Ausschau nach Sängerinnen und Sängern für die geplante Italienische Oper in Berlin zu halten. Dieser Aufenthalt hat ihn offenbar sehr geprägt; seine Musik kommt gerade im „Montezuma“ mediterran und leicht daher. Unter Takahiro Nagasaki spielte das Philharmonische Orchester der Hansestadt ausgesprochen frisch und flott, mit schwungvoller Dynamik. Die Solistinnen – im Original wurden die Rollen teilweise mit Countertenören besetzt – bestachen allesamt durch gestochen-glasklare Wiedergabe der sehr anspruchsvollen Koloraturläufe. Vor allem Emma McNairy als Erissena, Emilia Galotti und Dienerin holte sich völlig verdient brandenden Szenenapplaus ab. Das gilt ebenso für Evmorfia Metaxaki als Eupaforice und Katte, Andrea Stadel als Cortés bzw. Wilhelmine und die charaktertiefe Darstellung von Montezuma durch Julie-Marie Sundal. Stimmfarben und Spiel bildeten bei allen Sängerinnen eine Einheit, das Duett Montezuma–Eupaforice war ein echter Höhepunkt des Abends. Man mag hier ungern die eine vor die andere stellen.

Daß dies in der Lübecker Produktion alles Frauenstimmen sind, trägt zum Brecht´schen Verfremdungseffekt bei, der hier dazu führt, daß man sich immer wieder fragt, was eigentlich passiert und sich eher mit den Inhalten auseinandersetzen kann. Dazu gehört auch, daß die Geschichte des Kolonialismus weitergesponnen wird, indem einige der Ureinwohner als exotische Schaustücke in Kostümen photographiert und ihre Schädel vermessen werden. In der historischen Konsequenz bis zum Staatsrassismus und faschistischen Völkermord ist das sinnvoll, hätte aber nicht unbedingt sein müssen. Die ganze Inszenierung war gerade durch ihre Vielschichtigkeit und Bezüge so klar und kritisch, daß die, die sehen und hören konnten, die Botschaft verstanden. Das ging offenbar nicht jedem im Publikum so, denn gerade die humorigen, durch Überzeichnungen erzeugten Aspekte verstanden manche nicht, wie in den Pausen und nach der Vorstellung mitunter hörbar war. Aber Kerkhof hat seinen Brecht gut und frei in der eigenen Interpretation des Stoffes gelesen.

Zum Schluß hin überschüttet Emma McNairy die nun gemeuchelten Azteken mit Benzin und erzählt wie eine Chronistin, wer beim folgenden Brand im Lübecker Theater alles den Tod in den Flammen findet. „Leute, es geht um euch!“ will das sagen und ja, vielleicht beschäftigt man sich nach der Vorstellung einmal mit Kolonialismus, Friedrich dem Großen und erkennt dann in der Erinnerung an den Deutsch-Unterricht, daß „Emilia Galotti“ einst nicht ganz ungefährliche Kritik am Adel war. Rezeption also der Rezeption – das ist ein anspruchsvoller Ansatz und man mag allen inhaltlich und künstlerisch Beteiligten bescheinigen, daß sie gescheites Theater für gescheite Menschen gemacht haben.

Der Schlußapplaus mit vielen „Bravo“ und vor allem „Brava“-Rufen belegte, daß das Konzept aufgegangen war.

Andreas Ströbl, 27.1.2020

Bilder (c) Theater Lübeck