Lübeck: „Rusalka“

Besuchte Vorstellung: Premiere am 15. November 2019

Machtspiel statt Märchen

Prima la musica! – Bei allem grundsätzlichen Bekenntnis zum Gesamtkunstwerk thront doch die Musik in der Oper über allem und das gilt auch für die Premiere von Antonin Dvořáks „Lyrischem Märchen“, seiner „Rusalka“, in Lübeck.

Nach zwei herausragenden Dirigaten in der Lübecker „MuK“ (Musik- und Kongreßhalle) mit Mahlers Zweiter und der Fünften von Schostakowitsch im Rahmen der Sinfoniekonzerte 2019/20 stand der neue GMD, Stefan Vladar, nun zum ersten Mal am Lübecker Opernpult. Wie zu erwarten und zu erhoffen, meisterte er auch diese Aufgabe mit Energie und Feinsinn, das heißt: er brachte das Philharmonische Orchester zum märchenhaften Strahlen, entließ die Fortissimi mit Wucht in den Theatersaal und zauberte mit den feinen Nuancen. Die rhythmische Dynamik der ebenso kraftvollen wie seelenvollen Musik Dvořáks war von Beginn her mitreißend und körperlich fühlbar. Vor allem aber drang jede Silbe der Solisten durch und sollte sich eine Tschechin oder ein Tscheche im Publikum befunden haben, hätte er oder sie jedes Wort verstanden. Alle gesanglich Mitwirkenden haben sich offenbar mit Hingabe der Einstudierung einer Sprache gewidmet, die kräftig und charakteristisch, aber nicht in erster Linie sangbar ist.

Es klänge zu sehr nach Dirigenten-Dominanz, wenn man sagte, Vladar hätte das Orchester im Griff. Vielmehr scheint dieses in dem Wiener einen lange gesuchten Leiter gefunden zu haben, der erkannt hat, daß das Orchester der Hansestadt eben keine Provinzkapelle ist, sondern in der ersten Liga spielt.

Rusalkas „Lied an den Mond“ hat man sich zumindest im Sendebereich des NDR eigentlich schon übersattgehört, da es fast jeden Samstagmorgen in Herrn Mendes Mischung aus Carmen-Habanera, Peer-Gynt-Morgenstimmung und der Moldau (offenbar besteht der wunderbare „Vaterland“-Zyklus nur noch aus diesem Stück) gespielt wird. Das zarte Streicherweben meinte man am Premierenabend nach langer Zeit wiederzuentdecken und so ging es böhmisch-leidenschaftlich weiter. Der Applaus für die Harfenistin nach dem zweiten Sinfoniekonzert am 20. Oktober ging unter und daher soll er an dieser Stelle um so herzlicher für ihren Einsatz am 15. November erfolgen.

Mariá Fernanda Castillos Rusalka ist ungemein stark und selbstgewußt, was für die beiden letzten Akte großartig war. Im ersten Akt und gerade beim berühmten Mond-Lied wäre aber gerade für eine junge lyrische Sopranistin etwas mehr sanfte Schmiegsamkeit möglich gewesen. Da hätte sie gerne ein paar Phon leiser sein dürfen, ohne Angst vor dem Klein-Mädchen-Klischee haben zu müssen. Mit der Titelrolle ist nun mal Gestalt gewordene Jugendlichkeit beschrieben und die darf auch Weichheit vermitteln. Romina Boscolo als Ježibaba schaffte es, mit ihrem aufregend-ungewöhnlichen Alt, nahezu häßliche Töne in die durch die anspruchsvolle Bewegungsregie nicht ganz einfache Rolle zu geben, ohne als krächzende Hexe zu erscheinen. Als fremde Fürstin bewältigte Marlene Lichtenberg (Mezzosopran) überzeugend die Aufgabe, eine kalte und unsympathische Frau darzustellen. Der Tenor Tobias Hächler als Prinz sang die Rolle zwar gut, aber er wurde entweder von der Regie alleine gelassen oder war etwas gehemmt. Wer bei einem Satz wie „alles will ich dir geben!“ wie der standhafte Zinnsoldat dasteht, hat das Andersen-Märchen von der kleinen Meerjungfrau mit einem anderen verwechselt. Sollte er aber womöglich insgesamt so kalt wie seine zum Irrlicht gewordene Geliebte sein?

Rúni Brattaberg gab einen wunderbaren Wassermann mit sehr präsenter Baß-Stimmfülle und natürlicher väterlicher Autorität, Steffen Kubach (Bariton) als Heger brachte immer wieder eine schöne ironische Brechung in das Drama.

Ein Drama ist dieses Märchen ja in der Tat; hier geht es um Liebe, Betrug, Männer- und Frauenmacht, sexuelles Ausgeliefertsein und Tod. Die Verwandlung eines jungen Mädchens und seine Initiation in eine andere Welt, nämlich die der Erwachsenen, wird in den Sagen und Märchen von all den Undinen, Meerjungfrauen und eben Rusalken zum brennenden Thema gemacht und daher ist der psychologische Ansatz des Regisseurs Otto Katzameier völlig plausibel. Es geht aber immer auch um eine Wechselbeziehung zwischen dem Mädchen, das sich unter Schmerzen verändern muß, um den verlockenden Bereich von Liebe und Sexualität für sich zu erobern und um den Mann, der dem geheimnisvollen Wesen verfallen ist, um es aus dem gewohnten Milieu der Kindlichkeit und Geborgenheit zu führen – oder zu entreißen. Das englische Verb „to rape“ führt da etymologisch vom Reißen über das Rauben bis zum Vergewaltigen. Daß die Angst vor solchen Übergriffen nicht unbegründet ist, macht Katzameier in mehreren Szenen deutlich, wobei er es glücklicherweise bei Andeutungen läßt. Man weiß als Zuschauer schon, wohin da die Reise besser nicht gehen soll. Das sind schmale Grate und die Grenze zur Übersexualisierung ist ebenso schnell erreicht wie die prüde Angst vor naiver Natürlichkeit. Vor fast zwei Jahren hat das die heftige Diskussion nach dem Abhängen des romantischen Jugendstilgemäldes „Hylas und die Nymphen“ von John William Waterhouse aus dem Jahr 1896 in der Manchester Art Gallery gezeigt.

Bei Katzameier fängt die Welt, in die Rusalka hineinmuß, wenn sie die Frau des geliebten Prinzen sein will, schon bei der Hexe Ježibaba an, denn diese ist eine Mischung aus heruntergekommenem Vamp mit lippenstiftverschmiertem Joker-Mund und einem Krüppel mit Gehhilfen, wobei sie – wie die Meerjungfrau bei Andersen – in der ersten Szene das Laufen lernt und dann die Krücken ablegt. Zugleich ähnelt sie am Ende in dem billigen Glitzerfummel deutlich der Gräfin mit nämlichem Kleid und dem gleichen Schminkgeschmiere. So stellt sie eine bizarre Verbindung zwischen den Wünschen des Mädchens und deren schmerzlicher Erfüllung mit der Folge des Betrogenwerdens her. Rusalka will Menschenleib und Menschenseele und die erhält sie von der Hexe, muß aber in der Konsequenz als Verlassene und folglich Verfluchte in einer ewigen Zwischenexistenz als Irrlicht umhergeistern, denn sie kann nicht mehr zurück in das familiäre Geborgenheitswasser.

Zumindest hat sie am Ende ihre Stimme wiedererhalten, denn die mußte sie opfern, um als stumme Schönheit zu scheitern. Wer keine Stimme hat, kann sich nicht Gehör verschaffen und der flatterhafte Prinz, der noch nie etwas von Verantwortung gehört hat, macht sich auch kaum die Mühe, das Mädchen auf anderer Kommunikationsebene zu verstehen. Dazu ist er zu oberflächlich wie der Rest der Menschenwelt.

Man denkt unweigerlich an den mahnenden Satz von Rusalkas Verwandten, der Rheintöchter aus Wagners „Rheingold“: „Traulich und treu ist´s nur in der Tiefe, falsch und feig ist, was dort oben sich freut!“ Ihr bleibt nur – und auch darin ist sie ganz Mensch geworden – das Vertrauen aus Erlösung durch die Religion, denn die Oper endet mit ihrer Hoffnung, daß Gott den Prinzen trotz all dem, was er ihr angetan hat, lieben möge.

Funktioniert das bei Katzameier? Oder soll es das gar nicht? Farb- und Lichtregie drängten den Zuschauer in die Fragen nach deren Symbolik, was aber immer wieder in den Ansätzen steckenblieb. Klar, wenn Stroboskoplicht eingesetzt wird, dann droht Gefahr. Der Wechsel der Scheinwerferfarben sollte unterschiedliche Emotionen unterstreichen, erinnerte aber zuweilen an Lampen mit Farbwechsel-Funktion.

Wenngleich schließlich die weiße Härte eines einsamen und, was ihre Erlösung angeht, ausgesprochen fraglichen Endes für Rusalka ein schales Gefühl des Mitleids hinterließ, applaudierten die Lübecker begeistert, wohl auch nach der dramatischen Anspannung gelöst. Es blieben aber auch Fragen offen und die konnte man im Premierenpublikum in der Pause und nach der Vorstellung hören: Warum immer wieder Figuren in Unterwäsche auftreten und die Darsteller von Rusalkas nassem Volk bei ihrer Berührung oder auch nur deren Andeutung in ihrer Nähe reihenweise laut polternd umfallen, dann aber wieder aufstehen.

Daß der Wassermann von den drei Elfen zu Beginn getreten und ausgezogen wird, soll wohl seine väterliche und damit männliche Autorität in Frage stellen. Er ist aber von der Figur her so weit von Übergriffigkeit entfernt, daß dieses über das Necken weit hinausgehende Gehabe der drei Mädchen überzogen erscheint. Das gilt auch für die Grapscherei des Hegers, der dem Küchenjungen an die Wäsche will. Offenbar sind für Katzameier eben alle Männer des Stücks potentielle Vergewaltiger, auch die männlichen Gefährten der Wassermädchen, und da droht eine verunklärende Vermengung der Bereiche. Im Programm-Faltblatt wird der Psychoanalytiker Jacques Lacan zitiert und so spielt Katzameier mit dessen Termini des „Imaginären, Symbolischen und Realen“. Spiegeln die fallenden und wiedererstehenden Gefährten lediglich Rusalkas Angst vor der völligen Vereinsamung wider?

Das Gespräch mit einer kritischen weiblichen Stimme aus dem Publikum ließ in eine Furcht vor leichtfertigem Umgang mit der Abbildung der Gewalt gegen Frauen blicken. Sicher – die Inszenierung ist sozialkritisch angelegt, aber grundsätzlich sind diskretere Hinweise oft eindringlicher. Ein inflationärer Gebrauch des zu Kritisierenden schafft da schnell mehr Distanz als im Ansatz gewollt.

Andreas Ströbl, 17.11.2019

Fotos © Olaf Malzahn