Lübeck: „Eugen Onegin“, Pjotr I. Tschaikowsky

Das Glück einer Beziehung war Tschaikowsky verwehrt – im zaristischen Rußland war Homosexualität ebenso ein Tabu wie im Stalin- oder Putin-Totalitarismus. Eigentümlich, daß der Diktator die Aufführung von Tschaikowskys Musik noch nicht verboten hat, aber bei jemandem, der als Faschist gegen angebliche Nazis kämpft, muß einen tatsächlich gar nichts mehr wundern.

„Lyrische Szenen in drei Aufzügen“ hat Tschaikowsky seine Oper unterschrieben, aber dieser harmlos daherkommende Untertitel entspricht kaum der Dramatik des Werks. „Eugen Onegin“ ist ein sehr persönliches Opus des Komponisten, der bekannt hat, sich in die Figur der Tatjana verliebt zu haben. Mit all den Unmöglichkeiten der Liebe und den aus Stolz und Eitelkeit hervorgebrachten Mechanismen, die zur Zerrüttung bestehender Beziehungen, ja zum Tod eines der Protagonisten führen, ist diese Oper ein Konglomerat unglücklicher Abläufe und ein facettenreiches Bild dessen, was Menschen infolgedessen an Verzweiflung alles durchleben können. Die Erklärung der dramatischen Entwicklung durch die Figur des Bösewichts, der durch seine Egomanie alles durcheinanderbringt, scheint hier zu einseitig und zu plakativ. Da geht Tschaikowsky klar in die psychologische Tiefe und das haben auch die Macherinnen und Macher der Lübecker Produktion verstanden.

© Jochen Quast

Die Saisoneröffnung mit „Eugen Onegin“ geriet zu einem fulminanten Erfolg – das sei schon gleich verraten – und bis auf eine einzige Gaststimme hat das Lübecker Haus erneut bewiesen, wie leistungsstark Ensemble und Orchester der Hansestadt unter der musikalischen und künstlerischen Leitung sind und daß sie sich immer noch steigern können.

Die Inszenierung von Julia Burbach betont mit dem reduktionistischen Bühnenbild von Agnes Hasun mit weißgetünchten Andeutungen von Wänden und Durchgängen, die bewußt unfertig und improvisiert gelassen sind, die wesentlichen Aspekte von Handlung und Emotionen der Hauptdarsteller. Die werden durch eine ausgezeichnete Personenregie erlebbar; Bewegungsabläufe, Gestik und Mimik werden en detail ernstgenommen. Das gilt vor allem für die Massenszenen – hier steht keiner unmotiviert herum, sondern die Chormitglieder und Statisten bewegen sich ausgesprochen natürlich und deuten Unterhaltungen bzw. Reaktionen auf das Geschehen an.

Die Regisseurin hat offensichtlich Angst vor Statik, was einerseits zu begrüßen ist, andererseits aber manchmal etwas in Aktionismus mündet. Die Drehbühne wird gerade zum Schluß hin so oft und schnell eingesetzt, daß für manche im Publikum schon ein Drehwurm-Gefühl entsteht. Offenbar ist Julia Burbach hier vom Film beeinflußt, denn gerade bei längeren Dialogen oder Gesprächen dreht sich da ja gerne die Kamera im Kreis, um den Fluß der Unterhaltung zu untermalen oder hervorzuheben.

Kurz vor der Duellszene erscheint der eigentlich verspätete Onegin bereits in der Szene, was zwar punktuell geschickt ist, um beispielswiese in einer Umarmung der beiden Kontrahenten die Möglichkeit einer Versöhnung und ihre durch Stolz überdeckten freundschaftlichen Gefühle füreinander anzudeuten, aber das hätte auch schon genügt.

Puristen werden kritisieren, daß Onegin der von Liebe übermannten Tatjana in der Briefszene als Projektion ihrer Sehnsucht erscheint, aber das fügt sich durchaus harmonisch ins hier plastisch gemachte Bild ihrer Emotionen.

© Jochen Quast

Räumliche Trennungen durch Schnurvorhänge zeigen Separierungen einzelner Personen an, ein herabgesenkter Rahmen aus einer Lichtleiste läßt vertane Möglichkeiten erahnen, beispielsweise, wenn sich darin Tatjana und Onegin im trauten Miteinander wie im Bilderrahmen eines liebgewordenen Erinnerungsphotos auf dem Kaminsims aneinanderschmiegen. Falk Hampels intelligente Lichtregie unterstreicht in dieser und allen anderen Szenen in bewährter Weise Handlung und Musik.

Eine Schaukel wird immer wieder leitmotivisch als Bild der unbeschwerten Kindheit oder Jugend herabgelassen (Tatjana läßt sich immer wieder mal darauf nieder und schaukelt sanft hin und her, aber auch Onegin tut das in der Briefszene); dies ist ebenfalls eine Beschwörung einer Leichtigkeit, die es nie wirklich gegeben hat.

Die Auflösung der Duellszene in einen wahnhaften Traum Onegins, in dem der erschossene Freund inmitten einer gespensterhaften Ballgesellschaft anklagend erscheint, ist ein kluger Kniff, um die Gewissensnöte des innerlich zerrütteten Onegin darzustellen und gleichzeitig die Überleitung zur Ballszene herzustellen. In der tanzen die Chormitglieder und Statisten in Kostümen, die ein bißchen an eine Halloween-Party erinnern. Die sind hier in ihrer Schrägheit durchaus gelungen, aber ansonsten ist die Kostümierung in dieser Produktion ein echter Problemfall.

Spießige Trutschigkeit prägt die Kleidung der Protagonisten mit den braven Kleidern und Gesundheitsschläppchen von Tatjana und Olga, die Anzüge des Titelhelden und seines Freundes Lenski sind in Rentner-Beige gehalten, was so gar keine Assoziation an elegantes Dandytum oder schlichten Landschick der russischen Oberschicht aufkommen lassen will und offensichtlich auch nicht soll. Sei’s drum, da geht es dann eben um Inhalte – auch gut. Aber die farblich und von den Schnitten her überkandidelten Kostüme der Bauern, Pflückerinnen oder später Festgäste sind ein echter Kleinmädchen-Pastell-Alptraum, der hervorragend in den aktuellen Barbie-Film passen würde. Im Gespräch auf der Premierenfeier klang die Deutung als Tatjanas innere bunte, irreale Mädchenwelt an, aber Tatjana – auch diese hier – ist trotz ihrer spontanen Verliebtheit alles andere als nur ein verblendeter Teenager unter dem rosafarbenen Schatten erster Mädchenblüte.

© Jochen Quast

Dirigent Stefan Vladar zitierte auf der Feier Tschaikowskys Bemerkung, die Oper könne auch „Tatjana“ heißen – gerade in dieser Produktion zu Recht. Evmorfia Metaxaki singt und spielt das Mädchen aus der Gutsbesitzerfamilie, das später zur Frau reift, mit greifbarer Innigkeit und denkbar größter Intensität des Gefühlsausdrucks. Alle Facetten von der noch naiven Mädchenhaftigkeit bis zur äußerlich gesetzten, aber sich ihrer früheren Empfindungen erinnernden Gattin gibt sie mit ihrem Talent zu feiner Phrasierung absolut gekonnt wieder.

Ihr ebenbürtig ist Jacob Scharfman als Onegin, der mit seinem kraftvollen Bariton einerseits den selbstbewußten, ja arroganten Lebemann verkörpert, aber psychologisch vielschichtig gerade die verletzlichen, sensiblen Seiten des Titelhelden durchschimmern läßt, indem er sich in der Dynamik einfühlsam zurücknimmt. Dieser Onegin ist nicht allein der egomane Triebmensch, sondern er ist sicht- und vor allem hörbar erschüttert von dem, was er in Gang gesetzt hat – schließlich hat er das Glück von Olga und sein eigenes zerstört, Tatjana in Verzweiflung gestürzt und seinen besten Freund Lenski getötet.

Den gibt Gustavo Mordente Eda mit plastisch empfindbarem Spektrum von aufrichtiger Liebe bis zu ebensolcher, leider begründeter Eifersucht. Seinen Monolog vor dem Duell modelliert er in aller verfügbarer Seelenhaftigkeit – man kann hier auch, begründet verzweifelt, laut werden, aber das hat dieser Tenor nicht nötig. Er läßt tief in seine verletzte Seele blicken und gibt der Ausweglosigkeit der Situation ergreifend Gestalt.

Filipjewnas anteilnehmende Mütterlichkeit erhält durch Edna Prochnik mit warmem Mezzosopran liebevollen Ausdruck. Die Sängerin singt zwar nach eigener Angabe vor allem gerne die kantigen, dunklen Rollen, aber die der treusorgenden Kinderfrau gelingt ihr absolut überzeugend.

Mutter Larina mit ihrem abgeklärten Realismus übernimmt Julia Grote als einziger, in Lübeck bereits in Brittens „Albert Herring“ gerngesehener und -gehörter Gast – ebenfalls Mezzosopran.

Eine weitere ausgesprochene Sympathieträgerin ist Tatjanas Schwester Olga, die Laila Salome Fischer spielt. Man möchte die Mezzosopranistin, die auch dieser Nebenrolle eine bewundernswerte Tiefe gibt, am liebsten tröstend in den Arm nehmen, so schmerzgezeichnet ist ihr Gesicht nach dem Konflikt der beiden Freunde, die zu Feinden wurden.

Der Brillanz der solistischen Einsätze entsprechen im übrigen die Duette und gerade die schweren Quartette aller genannten Rollen in Exaktheit und Ausgewogenheit, zumal im ersten Aufzug.

Zu denjenigen wenigen, mit denen es das Schicksal in dieser Oper gutgemeint hat, gehört Fürst Gremin, der spätere Gatte Tatjanas. Rùni Brattaberg gibt der Rolle die angemessene sympathische Väterlichkeit – er tut gut daran, sich in den Höhen zurückzunehmen und sich auf die Fülle seiner Baßtöne zu konzentrieren.

Tenor Noah Schaul gibt mit seinem Auftritt als französischer Sänger Triquet ein humoristisches Kabinettstückchen mit dem Loblied über Tatjana – die albernen schrägen Betonungen ihres Namens gelingen ihm wunderbar unbedarft.

Auch die kleineren Rollen – Changjun Lee als Sekundant Saretzki (den man vor Kurzem in Verdis „Simone Boccanegra“ erleben konnte) und Yang-Ho Choi als Hauptmann – sind wieder einmal hervorragend besetzt.

© Jochen Quast

Großartige, zu Recht bejubelte Leistungen bringt auch dieses Mal der Chor und Extrachor unter Jan Michael Krüger, ob in der traditionellen Einstimmigkeit im Volkslied im ersten Aufzug oder den opulenten Festszenen.

Es wäre zu kurz gegriffen, wenn man Stefan Vladar attestierte, daß er beim berühmten Walzer ganz in seinem Element sei, denn das fabelhafte Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck spielt unter der Leitung seines GMD und Operndirektors durchweg die bewegende Musik mit Leidenschaft, Hingabe, Differenziertheit und einer Fülle, die schon seit Jahren keinen Vergleich mehr mit den großen Klangkörpern des Landes zu scheuen braucht.

Das unterstreicht auch das Premierenpublikum mit begeistertem Szenenbeifall –gerade vor der Pause nach dem ersten Bild des zweiten Aufzugs können es die Lübecker kaum abwarten, mit Hingabe zu applaudieren.

Ein langanhaltender Schlußapplaus feiert diese unbedingt sehenswerte Produktion.

Andreas Ströbl, 3. September 2023


Eugen Onegin
Lyrische Szenen in drei Aufzügen von Pjotr Iljitsch Tschaikowsky

Theater Lübeck

Premiere am 2. September 2023

Musikalische Leitung: Stefan Vladar
Inszenierung: Julia Burbach
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck
Chor und Extrachor des Theaters Lübeck

Nächste Vorstellungen: 16. September, 1. und 21. Oktober