Magdeburg: „Peter Grimes“

Premiere am 30. April 2022

Schlüssiges Konzept

Mit der Londoner Uraufführung von „Peter Grimes“ am 7. Juni 1945 gelang Benjamin Britten der Durchbruch als Opernkomponist. Bekanntlich schrieb er die Titelpartie für seinen Freund, den Tenor Peter Pears, der durch diese Rolle Weltruhm erlangte. Während seiner Zeit in Amerika ab 1939 errang er mit seinen Kompositionen neben vielen Erfolgen aber gerade mit seinem ersten Bühnenwerk, der Schuloperette „Paul Bunyan“ (1941), auch Fehlschläge. Erst nach Krisenzeiten und Depressionen fand Britten in der Verserzählung „The Borough“ des englischen Dichters George Crabbe, der wie er aus einem ostenglischen Fischerstädtchen stammte, den Stoff, der ihn zu seinem ersten Meisterwerk des Musiktheaters inspirierte. Im Gegensatz zu der im Crabbe-Text stärker herausgestellten kriminellen Energie des Peter Grimes wird in dem Libretto von Montagu Slater vorwiegend auf dessen Außenseiterstellung verwiesen, der selber nie Liebe erfahren hat und sie daher auch nicht weitergeben kann.

Zum Inhalt: Durch seine schlichte, raue Lebensweise wird Peter Grimes nach dem Tod seines ersten Schiffsjungen zum leichten Opfer der Verleumdung und Lügen der Dorfbewohner. Obwohl im Prolog der Richter ihn davon freispricht und einen Unfall anerkennt, will die Menge das nicht wahrhaben; es brodelt weiter im Dorf. Außer dem alten Kapitän Balstrode, dem Apotheker Keene und der ihn liebenden, verwitweten Lehrerin Ellen Orford will keiner Grimes helfen, als er mit schwerem Fang heimkommt. Keene besorgt ihm sogar den neuen Schiffsjungen John. Doch durch ein weiteres echtes Unglück verliert Grimes auch den zweiten Jungen: Gerade als sich eine Abordnung der Dorfbewohner Grimes‘ Haus nähert, schickt er ihn über die Klippen zum Strand; auf dem Weg herunter zum Boot stürzt der Junge tödlich ab. Grimes, der schon nach dem Tod des ersten Jungen Wahnvorstellungen hatte, verfällt nun noch mehr dem Wahnsinn und folgt schließlich dem Rat von Balstrode und Ellen, aufs Meer zu fahren und das Boot weit draußen zu versenken, um so dem ihn suchenden Mob zu entgehen, der ihn lynchen will.

Richard Furman/Noa Danon

Regisseur Stephen Lawless, der mit der Neuinszenierung eine rundum schlüssige Konzeption verfolgt, hat das Geschehen aus der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts näher in die Gegenwart geholt und es in einem in die Jahre gekommenen englischen Seebad angesiedelt, für das Ausstatter Leslie Travers eine typische Szenerie entworfen hat. Das Verhältnis des Außenseiters zur Gesellschaft mit ihrer Scheinmoral steht ganz deutlich im Mittelpunkt, was ja in der Vorlage ihren Grund hat, wenn man bedenkt, dass Britten und Pears zeit ihres Lebens wegen ihrer Homosexualität erhebliche Außenseiter-Probleme hatten. In Magdeburg blickt man nach dem Prolog vor dem Eisernen Vorhang auf eine wirbelige Amüsier-Meile in dem fiktiven Seebad: Vor dem gern genutzten Spielsalon, über dem sich Aunties Kneipe befindet, Ausgangspunkt der beiden „Nichten“ für ihr männerfreundliches „Gewerbe“, spielt sich so allerlei ab: Da kommt der eifernde Methodist Bob Boles als Penner daher, Apotheker Keene dealt mit Drogen und besorgt der bigotten Mrs. Sedley die Tabletten, die sie für ihre Sucht braucht, von den vielen einzelnen Szenen im bunten Treiben einmal abgesehen. Da sind dem Regisseur und seinem Ausstatter wirklich eindringliche Bilder gelungen, die auch in späteren Szenen von beeindruckender Klarheit sind, wenn man aufs weite Meer hinausblickt oder der schäbige Wohnwagen von Grimes ins Zentrum rückt. Der Schluss der Oper ist hier ein bitterer Blick auf unsere Gesellschaft, wenn die aufgewiegelten Bürger mit rot-weißen Fan-Schals mit der Aufschrift „England“ auf den ausgebrannten Wohnwagen blicken und erfahren, dass Grimes‘ Boot untergeht, und wenn anschließend mit drei Müllwerkern aus arabischen Ländern neue Außenseiter erscheinen.

Johannes Stermann/Na’ama Shulman/Hyejin Lee

Neben den trefflichen Bühnenbildern, dem überaus spielfreudigen Solistenensemble und dem passend choreografisch (Lynne Hockney) geführten, klangausgewogenen Chor, einstudiert von Martin Wagner, ist ein weiterer wesentlicher Pluspunkt der Produktion die in allen Gruppen und mit vorzüglichen Instrumenten-Soli herausragende Magdeburgische Philharmonie unter der anfeuernden und zugleich präzisen Gesamtleitung von Anna Skryleva. Die jeweilige Stimmung wurde in den vielschichtigen orchestralen Zwischenspielen beeindruckend eingefangen.
Die Titelfigur war dem hier schon mehrfach in großen Partien erlebten, amerikanischen Tenor Richard Furman anvertraut, der die komplizierte seelische Struktur des Fischers überzeugend gestaltete: Da gab es zärtliche Momente, wenn er sich ein gemeinsames Leben mit Ellen Orford vorstellte, aber auch gewaltige Ausbrüche, was er alles in seine individuell timbrierte, stets intonationsrein geführte Stimme legte, von wunderschön gesungener Lyrik bis zu in tenoraler Spannkraft ausufernder Dramatik. Noa Danon gab die Peter Grimes trotz seiner psychischen Problematik zugetane Ellen Orford; ausdrucksstark zeichnete sie das Profil der sympathischen Frau. Dabei führte sie ihren angenehm timbrierten Sopran sicher durch alle Lagen und beeindruckte erneut mit durchgehend abgerundeten Tönen.

Der einzige, der am Schluss neben Ellen noch zu Grimes hält, ist der knorrige Captain Balstrode; er war bei Sangmin Lee mit seinem klangprächtigen Bariton und ausgeprägter Bühnenpräsenz sehr gut aufgehoben. Einen entscheidenden Platz in der Gesellschaft des kleinen Badeortes nimmt die Kneipenwirtin Auntie ein, der Lucia Cervoni mit charaktervollem Mezzo Profil gab. Die beiden „Nichten“ waren jeweils in sexy Outfit und witziger Darstellung Hyejin Lee und Na’ama Shulman, deren klare Soprane einige Ensembles überstrahlten. Einer ihrer „Kunden“ war der Bürgermeister und Anwalt Swallow, den Johannes Stermann mit gewohnt raumgreifendem Bass gab. Der Charakter-Tenor von Stephen Chaundy passte bestens zum eifernden Bob Boles. Die Peter Grimes immer misstrauenden Mrs. Sedley war Jadwiga Postrożna, deren geradezu komische Gestaltung ebenso gefiel wie ihr volltimbrierter Mezzosopran. In weiteren Rollen bewährten sich Benjamin Lee als klarstimmiger, sich ständig anpassender Reverend Horace Adams, Marko Pantelić mit flexiblem Bariton als schmieriger Apotheker Ned Keene und Zhive Kremshovski stimmkräftig als der allen gefällige Hobson sowie einige Chorsolisten.

Die in allen Teilen gelungene, sehenswerte Produktion gefiel dem Premierenpublikum über alle Maßen, was sich in lang andauerndem, mit vielen Bravi durchmischtem Applaus zeigte.

Fotos:©Andreas Lander

Gerhard Eckels 1. Mai 2022

Weitere Vorstellungen: 8.,15.,21.5.+6.6.2022