Osnabrück: „Elektra“ halbszenisch

Premiere 21. Mai 2016, besuchte Aufführung 17. Juni 2016

In altgriechischen Tragödien wird das Schicksal der Betroffenen meist dargestellt in Monologen und Dialogen, später mit Kommentierung durch den Chor. Auf der Bühne, deren Hintergrund häufig eine Fassade darstellt, sind Kämpfe oder Tötungen nicht zu sehen, von diesen wird nur berichtet. Daran hielt sich in etwa auch Hugo von Hofmannsthal in seiner Tragödie in einem Aufzug „Elektra“ nach Sophokles, die von Richard Strauss vertont wurde. Den kommentierenden Chor ersetzt ja bei Wagner und Strauss die Leitmotivtechnik im Orchester. Deshalb eignet sich diese Oper mehr als andere für konzertante oder halbszenische Aufführungen mit dem Orchester hinten auf der Bühne. Das hat zudem den Vorteil, daß nicht abstruse Regieeinfälle den Charakter des Werks verfälschen, bei „Elektra“ etwa grosse Emotionen kleinkariert darstellen können.

Eine solche halbszenische „Elektra“ ist jetzt großartig gelungen dem Theater am Domhof in Osnabrück unter der musikalischen Leitung des jungen GMD Andreas Hotz in der szenischen Einrichtung von Intendant Ralf Waldschmidt.

Letzterer erreichte szenische Wirkungen durch Mimik und Bewegung der Protagonisten, aber auch durch gespielte Szenen. Während nach der Nachricht vom Tode Orests Elektra nach dem Beil grub, sah man bei etwas hellerer Saalbeleuchtung Orest (mit grosser Bariton-Stimme Rhys Jenkins) und seinen Pfleger (Genadijus Bergorulko) aus einem Seiteneingang am Publikum vorbei zur Bühne gehen, später wurde die Erkennungsszene zwischen Elektra und Orest voll ausgespielt. Die Todesschreie Klytämnestras waren hinter der Bühne zu hören. Aegisth – schauspielerisch und mit treffsicherem Tenor dargestellt von Mihkail Agofonov – wurde vor seiner Tötung wie vorgeschrieben zur Bühne und zurück gezerrt. Zum Schluß tanzte Elektra nicht, sondern sank leblos in sich zusammen. Unterstützt wurde dies durch eine zwischen dunkelrot und hellblau je nach Szene wechselnde Beleuchtung von Bühnenhintergrund und -seiten (Licht Uwe Tepe) Die Kostüme von Linda Schnabel wechselten zwischen schwarzen für die düsteren Gestalten wie Elektra, Klytämnestra oder Orest und weissem für die dem Tag zugeneigte Chrysothemis. Die Mägde (Almerija Delic, Gabriella Guilfoil, Kathrin Brauer und Radoslava Yordanova – alle exakt singend) waren schwarz-weiß gekleidet mit Ausnahme der Aufseherin in schwarz(Chihiro Meier-Tejima) und der fünften Magd in weiß, weil sie bewundernde Worte für Elektra findet – Erika Simons mit strahlend hohem Schlußton zum Ende ihres Auftritts.

Für die Titelpartie verfügte Rachael Tovey über die Riesenstimme, wie Strauss sie sich für die „allerhochdramatischste Sängerin“ wohl vorgestellt hat. Ihre Spitzentöne überstrahlten ohne Schwierigkeiten das grosse Orchester, manchmal fast mehr als für das kleine Osnabrücker Haus notwendig. Bewundernswert waren ihre Mittellage und die für die Partie notwendige Tiefe. Gleichzeitig war sie textverständlich, soweit bei dem hochdramatischen Gesang möglich. So war ihr erster Monolog, sich aus Haß zum vorweggenommen Triumph über den Tod der beiden Mörder ihres Vaters steigernd, mit den langen hohen Tönen (bis zum c) „eine archaische Wucht“ Sie konnte ihre Stimme auch zurücknehmen, etwa bei den drei leisen „Orest“-Rufen, beim dritten mit einem crescendo endend. Auch die ironische Stimmfärbung beim Gespräch mit ihrer Mutter oder mit Aegisth wurde deutlich. Von allen Mitwirkende spielte sie ihre Rolle am intensivsten, wohl weil sie sie bereits szenisch dargestellt hat.

Ganz grosse Bewunderung verdiente Lina Liu aus dem Opernensemble Osnabrücks als Chrysothemis. Lyrisch und legato bis zu feuriger Begeisterung gelang ihre Wunscherzählung nach normalem „Weiberschicksal“, gleichzeitig verfügte sie über genügend Stimmkraft und Technik, um sich bis zu Spitzentönen ohne Schärfe gegen das grosse Orchester durchzusetzen. So wurde ihr Schlußduett mit Elektra zum Höhepunkt des Abends.

Für die Rolle der Klytämnestra ließ sich Martina Dike als indisponiert ansagen, das war wirklich überflüssig, man kann sich kaum vorstellen, daß in früheren Aufführungen ihr die Rolle besser gelang. Vor kurzem noch bewundert als Mrs. Sedley in Britten´s „Peter Grimes“ in Dortmund machte sie hier sängerisch ganz entgegengesetzt die abartige Psyche der nach dem Mord an ihrem Mann die Rache des Sohnes fürchtenden Königin deutlich. Erschütternd klang nach der Auseinandersetzung mit Elektra das mehrere Takte zu haltende gis bei „damit ich wieder schlafe“Auch sie war – besonders wichtig für die fast parlando Stellen – weitgehend textverständlich.

Der Hauptakteur des Abends aber war, hinter den Sängern platziert, das Osnabrücker Symphonieorchester in der von Strauss genehmigten verkleinerten Besetzung von ungefähr 60 Musikern unter Leitung von Andreas Hotz. Was brauchte es z. B. einen „Strohwisch“ für Elektra, wenn man seine Schläge im Orchester hören konnte, was brauchte es ein Beil, wenn man sein Herabsausen schaurig vernehmen konnte, was braucht es Talismane am Körper von Klytämnestra baumelnd, wenn man sie im Orchester bei jedem ihrer Schritte klirren hörte.

Besonders in den Zwischenspielen wurden zudem die Schärfen zwischen den polytonalen Akkorden betont. Die fahlen Orchesterfarben beim Auftritt Klytämnestras oder die schon weihevollen p-Akkorde der Wagner-Tuben beim Auftritt Orests, die süffigen Kantilenen bei der Erkennungsszene beeindruckten sichtlich die Zuhörer. Die Soli von Geige, Bratsche und Cello, der beiden Harfen und die vielen Bläsersoli verdienten besonderes Lob.

Bei Sängern, Dirigent und dem Orchester, auch den einzelnen Solisten daraus, bedankte sich das Publikum im fast ausverkauften Haus mit langem Beifall und vielen Bravos.

Sigi Brockmann 18. Juni 2016

Fotos Jörg Landsberg

P.S.

„Habent sua fata libelli“ Dieses lateinische Sprichwort, daß Bücher ihre Schicksale haben, kam mir in den Sinn, als ich in meinem vor langer Zeit antiquarisch erworbenen Klavierauszug der „Elektra“ den Namen „Ks. Brünnhild Friedland Staatsoper Dresden“ las, die offenbar mit diesem Klavierauszug die „Chrysothemis“ studiert hatte. Sie hieß eigentlich Marianne Pietschick, war von 1950 bis 1970 an der Dresdner Staatsoper engagiert, floh nach München, bekam dort kein Engagement, ging zurück in die DDR, bekam auch kein Engagement mehr, reiste legal zurück in die Bundesrepublik, wieder kein Engagement, wieder zurück in die DDR, wieder kein Engagement, dann Abschiebung in die Bundesrepublik als unerwünschte Person, sang noch in Osnabrück als Gast die Mutter in „Hänsel und Gretel“, war dann bis zu ihrem Tod 1986 arbeitslos – ein trauriges innerdeutsches Sängerinnenschicksal!