Regensburg: „Wüstung (Vastation)“, Samy Moussa

Premiere: 17. 5. 2014 (Uraufführungsproduktion)

Von König Artus bis Star Wars – Politthriller und Science-Fiction

Zu einem beeindruckenden Abend geriet die Premiere von Samy Moussas neuer Oper „Wüstung“ am Theater Regensburg. Die herzliche Aufnahme, die dieses bereits einige Tage zuvor im Rahmen der diesjährigen 14. Münchner Biennale aus der Taufe gehobene, auf einem Libretto von Toby Litt beruhende Werk seitens des zahlreich erschienenen Publikums erfuhr, legt den Schluss nahe, dass dieses modernen Erzeugnissen des Musiktheaters sehr aufgeschlossen gegenübersteht.

Vera Egorova (Anna)

Moussas und Litts neue, englischsprachige Oper stellt eine gelungene Gratwanderung zwischen Politthriller und Science-Fiction dar. Die Handlung spielt in einem fiktiven Land. Geschildert wird der Wahlkampf der noch amtierenden Präsidentin Anna, die unbedingt wiedergewählt und noch weitere Jahre die Macht im Staat ausüben will. Das Problem ist aber, dass sich ihr keine Gelegenheit bietet, sich zu profilieren und ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Die Lösung findet schließlich der Campaign Manager: Eine Krise muss her, die Anna dazu legitimieren würde, einen vorgetäuschten feindlichen Angriff mit der Wunderwaffe des Landes, „Vastation“ genannt, zu Deutsch „Verwüstung“ oder auch nur – wie hier – „Wüstung“, zurückzuschlagen. Dabei handelt es sich indes nicht um eine Bombe in traditionellem Sinne, sondern um eine Schallwelle, die die Gegner in den Wahnsinn treibt. Dabei verfolgt der Campaign Manager durchaus auch eigene Interessen, denn wenn die alles andere als starke Anna als Verliererin aus der Wahl hervorgehen würde, wäre es auch um sein Amt geschehen. Und das will er verständlicherweise verhindern. In kurzer Zeit gelingt es ihm, Annas Tochter Lola und deren Liebhaber Dimitri, der indes auch mit Anna liiert ist, auf seine Seite zu ziehen. Nach dem Einsatz von „Wüstung“ haben sich die Chancen der Präsidentin auf eine Wiederwahl erheblich erhöht, aber der von der Waffe getroffene Dimitri hat seinen Verstand verloren. Der Campaign Manager lässt ihn kurzerhand ins Jenseits befördern. Lola trauert um ihren Lover. Sie erkennt die Schwächen ihrer Mutter und reißt nun selber die Macht an sich. Indem Lola die Beziehung Annas zu Dimitri öffentlich macht, versetzt sie ihr den politischen Todesstoß. Über diesen Sieg kann sie sich indes nicht lange freuen, denn der Colonel reißt die Macht an sich und lässt sie und den Campaign Manager kurzerhand verhaften. Die Wahl wird auf unbestimmte Zeit verschoben, das Militär übernimmt die Macht. Von einer Demokratie zur Militärdiktatur ist es oft nur ein kurzer Weg.

Ensemble

Es sind sehr zeitgemäße Themen, mit denen Komponist und Librettist hier aufwarten. Es geht um Machterhalt, Machterwerb und Machtmissbrauch. Richtet man dem Blick nach Nah- und Fernost, wird die Aktualität der aufgeworfenen Themen sinnfällig. Die Lokalpolitik bildet hier gekonnt die Weltpolitik ab, die Situation im Mikrokosmos versinnbildlicht die Lage in vielen Teilen der Welt. Die Problematik der Krisenbewältigung ist dabei nicht auf einen äußeren politischen Rahmen beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf private Beziehungen. Das aufgezeigte infame Machtspiel, das keine Rücksichten kennt, zerstört letztlich eine Familie. Gleichzeitig werden die verheerenden Auswirkungen von jedweder Verführbarkeit und Manipulation einfühlsam aufgezeigt. Das gilt insbesondere für Dimitri und Lola, für die das Ringen um die Macht die letzte Chance ist, sich von der sie gänzlich dominierenden Mutter zu emanzipieren. Liebe und Gefühle sind in diesem Ambiente aber zu Fremdwörtern geworden, eiskaltem politischem Kalkül ist Tür und Tor geöffnet. Die dem Ganzen immanente Botschaft wird klar ersichtlich, auch wenn es Moussa und Litt nach eigenem Bekunden im Programmheft nicht darauf ankam, ein politisches Lehrstück zu schreiben.

Anna Pisareva (Lola), Jongmin Yoon (Harry)

Die hier ganz radikal aufgezeigten Gefahren sind nicht auf die Gegenwart beschränkt, sondern zeitlos relevant. Mit ihnen wird man sich wohl auch in ferner Zukunft noch herumzuschlagen haben. Aus dieser Erkenntnis heraus verpasst Regiealtmeisterin Christine Mielitz ihrer Interpretation gekonnt einen futuristischen Anstrich, wobei sie auch die Welt des Films einfließen lässt. Wenn das Wachpersonal auf einmal Laser-Schwerter zückt, wird die Parallele zu „Star Wars“ nur zu offenkundig. Der „Herr der Ringe“ und „Hunger Games“ lassen ebenfalls grüßen. Dorit Lievenbrück hat ihr als Einheitsbühnenbild einen Kubus auf die Bühne gestellt, dessen ständige Schieflage die politische Instabilität des imaginierten Landes mit rot-schwarz-weißer Fahne trefflich versinnbildlicht. Die vielfältig eingesetzten Projektionen machen einen weiteren großen Reiz der Inszenierung aus. Die von Isabel Glathar recht skurril eingekleideten Handlungsträger präsentieren sich dem Auditorium wie von Fernsehkameras eingefangene moderne Politiker von der Leinwand herunter, wobei sie durchweg eine große Show abziehen. Immer wieder flimmern ganze Zahlenströme über die Wände des Kubus, der als ursprüngliche Machtzentrale auch mal zum Krankenzimmer von Annas Ehemann Harry mutiert. Ein in ihm aufragender riesiger archaischer Opferblock deutet zurück in die Vergangenheit – und zwar zu den Zeiten König Artus’ und Shakespeares. Jedenfalls weist der Stoff vielfältige Parallelen zu Stücken des Meisters aus Stratford auf. Die Handlung von „Wüstung“ kann man getrost als auf die Zukunft ausgerichtete bürgerliche Adaption der Königsdramen Shakespeares bezeichnen. Die Konflikte und Befindlichkeiten sind praktisch diesselben, wenn auch in einem anderen Gewand. Hier haben sich die Nachfahren aller der Heinriche und Richarde versammelt, die der englische Dichter so großartig schildert, wobei das Verhalten der Handlungsträger dem ihrer königlichen britischen Urväter nicht unähnlich ist. Shakespeare hätte an dieser Geistesverwandtschaft sicher seine helle Freude. Und das nicht nur wegen des Themas, sondern auch, weil dieses von Christine Mielitz hervorragend umgesetzt wird. In Sachen ausgefeilter und spannungsgeladener Personenregie ist sie eine Meisterin ihres Fachs. Hier haben wir es mit einer Regisseurin zu tun, die ihr Handwerk versteht und an keiner Stelle Leerläufe aufkommen lässt. Der von ihr gewobene szenische Spannungsbogen reißt nie ab und verdichtet sich im Lauf des Stücks immer mehr. Dabei zwängt sie den Zuschauer aber niemals in eine Zwangsjacke, sondern lässt ihm noch genug Raum für eigene Assoziationen. Das war alles sehr überzeugend und packend umgesetzt.

Ensemble, Chor

Auch in musikalischer Hinsicht hinterließ der Premierenabend einen nachhaltigen Eindruck. Moussa, der an diesem Abend höchstpersönlich am Pult stand und das intensiv aufspielende Philharmonische Orchester Regensburg mit großer Energie und Verve leitete, setzt bei seiner neuen Oper nicht auf Dodekaphonie oder serielle Musik mit Clustern und allen möglichen queren Tönen. „Wüstung“ zeichnet sich vielmehr durch eine tonale Tonsprache aus, in der auch Melodik nicht zu kurz kommt. Die Partitur stellt ein gelungenes Gemisch aus Minimal-Music, Filmmusik und romantischer Tonsprache dar. Anklänge einer Leitmotivtechnik werden merkbar. Wenn der Komponist jeder Person ein eigenes Thema zuordnet, wird damit eindeutig Richard Wagner gehuldigt. Auch das hier angewandete Prinzip der durchkomponierten Musik gemahnt an den Bayreuther Meister. Immer wieder drängen vier Akkorde an die Oberfläche, bis sie schließlich eine Zersetzung erfahren. Die Wirkung von „Wüstung“ wird lediglich mit klanglichen Mitteln vorgeführt, Donner, Streicherkaskaden und gellende Triangel-Töne versinnbildlichen den Einsatz der wahnsinnig machenden Wunderwaffe. Hier haben wir es dann auch mit einem recht krassen Stück Musik zu tun, das eindeutig zeitgenössischen Ursprungs ist. Umso überraschender muss dann ein Rückgriff auf die Zeit Bachs erscheinen. Im Orchester geht es schon sehr abwechslungsreich zu.

Cameron Becker (Campaign Manager), Vera Egorova (Anna), Jongmin Yoon (Colonel), Anna Pisareva (Lola)

Den Gesangssolisten wird mehr Rezitativfähigkeit als der Gesang schöner Arien und Kantilenen abverlangt. Vera Egorova gab eine darstellerisch überzeugende Präsidentin Anna, der sie mit ihrem gut sitzenden Mezzosopran auch stimmlich gut entsprach. Übertroffen wurde sie von Anna Pisareva, die die Lola mit bestens focussierten, blühenden Sopran-Höhen ausstattete. Jongmin Yoon brachte einen tadellosen, sonor klingenden Bass für den Harry und den Colonel mit. Als Dimitri gefielt mit gut gestütztem, voll und rund klingendem Bariton Seymur Karimov. Lediglich schauspielerisch eindrucksvoll war Cameron Becker, der den Campaign Manager als ausgesprochen schillernde Persönlichkeit gab, gesanglich aber mit seinem stark in der Maske sitzenden Tenor nicht überzeugen konnte. Eine solide Leistung erbrachte der von Alistair Lilley einstudierte Chor.

Fazit: Eine hochkarätige Aufführung, die eine Fahrt nach Regensburg als sehr lohnend erscheinen lässt.

Ludwig Steinbach, 19. 5. 2014
Die Bilder stammen von Martin Sigmund