Ulm: „Turandot“

Besuchte Aufführung: 27.12.2015 , Premiere: 24.9.2015

Rätselraten im totalitären Staat

Bereits die Uraufführung der „Turandot“ am 25.4.1926 ging als Torso über die Bühne der Mailänder Scala. Damals legte der Dirigent Arturo Toscanini nach Lius Tod unvermittelt den Taktstock nieder, wandte sich zum Publikum und sagte: „Hier endet das Werk des Meisters. Danach starb er“. Als Puccini im Jahre 1924 die Augen für immer schloss, war er mit der Komposition gerade bis an diese Stelle gekommen. Das Finale hat dann Franco Alfano im Auftrag des Verlegers Ricordi anhand von Skizzen des verstorbenen Tonsetzers fertiggestellt. Mit diesem Schluss, der entgegen den Intentionen Puccinis reichlich pompös und bombastisch ausfiel, konnte Toscanini nichts anfangen. Er legte das Vorgehen Alfanos, das auch heute noch umstritten ist, als Eigenmächtigkeit und Negierung des Willens Puccinis aus, was ihn veranlasste, die Oper bei ihrer erstmaligen Präsentation an besagter Stelle enden zu lassen. Das von Alfano nachkomponierte Duett zwischen Turandot und Calaf samt Happy End wurde erst ab der zweiten Aufführung gespielt.

Chor und Extrachor des Theaters Ulm

Mit Blick darauf, dass der Schluss von Alfano im Gesamtkontext der Oper einen Fremdkörper darstellt, wurde für die Neuproduktion am Theater Ulm ebenfalls die Fragment-Fassung gewählt. Die Absage an das von den meisten Bühnen gespielte fragwürdige Ende Alfanos und die Rücksichtaufnahme auf Puccinis Absichten wirkten sich an diesem Abend dann auf das offene Ende recht positiv aus. Die Aufführung schloss statt mit einem platten Happy End in tiefer Beklommenheit und ausgemachter Resignation. Wie es zwischen Calaf und Turandot weiter geht, weiß man nicht. Während der Vorhang fällt, setzt er an, die chinesische Prinzessin zu küssen. Ob ihm das gelingt, bleibt offen. Auf diese Weise stellt Regisseur Matthias Kaiser kurz vor dem Ausklingen der Musik noch ein gewichtiges Fragezeichen in den Raum und überlässt es dem Zuschauer, sich den Schluss auszumalen.

Edith Lorans (Liu), Eric Laporte (Calaf)

Einer Läuterung Turandots scheint er ebenso zu misstrauen wie allem traditionell überladenen fernöstlichen Pomp. Demgemäß setzt er zusammen mit Britta Lammers (Bühnenbild) und Angela C. Schuett (Kostüme) das dramatische Geschehen auch nicht konventionell in Szene, sondern kleidet es vielmehr gekonnt in ein modernes Gewand. Das Regieteam macht aus der „Turandot“ in überzeugender Art und Weise ein politisches Stück und lässt das Ganze in einem totalitären Staat spielen. Aus China wird Nordkorea, in dem der alte, im Rollstuhl hereingefahrene Kaiser Altoum passenderweise als Mao-Verschnitt erscheint. Von einer Tribüne aus beobachten grün uniformierte Soldaten und Soldatinnen, wie der persische Prinz zur Hinrichtung geführt wird und nehmen auch im Folgenden stark am Geschehen Anteil. Auf der rechten und der linken Wand der Bühne erblickt man Slogans wie „Führe uns, Prinzessin Turandot“ und „Turandot, Sonne der Partei“. Anklänge zum Bolschewismus werden spürbar. Überall sieht man auf die Wände gemalte geballte Fäuste. Immer wieder ragen bedrohlich Gewehrläufe aus Löchern in den Wänden heraus. Auf den Hintergrund ist eine Gruppe aus drei Personen projiziert: Zwei Gefangene – einer davon mit gleichsam zum Freiheits-Ruf erhobenem Arm -, die von einem bewaffneten Soldaten bewacht werden. Hier haben wir es mit einem gewalttätigen Staat zu tun, mit dem ganz und gar nicht zu spaßen ist und der sein Volk rigide unterdrückt.

Susanne Schimmack (Turandot), Chor und Extrachor des Theaters Ulm.

Den Bewohnern ist es verwehrt, sich im Glanz der Herrscherfamilie, des Geheimdienstes und des Militärs zu sonnen. Sie leben in ständiger Unterjochung in einer Art schmutzigem Kanal. Als Zugang dient ein auf der linken Seite angebrachtes Rohr, aus dem zu Beginn Liu und Timur herein kriechen und dann auf den Touristen Calaf treffen. Im Folgenden bringt Liu Puppen an, mit denen Rollenspiele vollführt werden. Dieser Regeeinfall wird verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass alle im Kanal Beheimateten gleichsam Sklaven der Herrschaftsklasse sind. Sie werden von dieser aller Subjektivität beraubt und gleich Puppen zum bloßen Objekt degradiert. Ebenfalls mehr oder weniger Sklaven des mordlustigen Staates sind die drei Minister, die sich nach ihrer schönen Heimat sehnen und sich erheiternde Masken von Figuren Walt Disneys aufsetzen: Mickey Mouse, Goofy und Donald Duck. Dieses Konzept Kaisers ist voll aufgegangen. Wenn dann noch treffliche Charakterzeichnungen sowie eine gelungene, logische und flüssige Personenregie dazukommen, ist das Glück vollkommen.

Susanne Schimmack (Turandot), Edith Lorans (Liu), Eric Laporte (Calaf), Chor und Extrachor des Theaters Ulm

Gesanglich vermochte in erster Linie Eric Laporte vom Staatstheater Mainz in der Rolle des Calaf zu überzeugen. Nicht nur die berühmte Wunschkonzert-Nummer „Nessun dorma“ sang er mit atemberaubender heldenhafter Attitüde. Hier haben wir es mit einem sehr beachtlichen Tenor zu tun, der seiner schwierigen Rolle in jeder Lage mit sauber durchgebildeter, profunder und kräftiger Tongebung voll entsprach und auch in der Höhe großen stimmlichen Glanz entfaltete. Es mag an einer Indisposition, deretwegen sie sich ansagen ließ, gelegen haben, dass Susanne Schimmack als Turandot ihm gegenüber etwas abfiel. Sie hielt den Abend trotz besagter Erkrankung zwar insgesamt gut durch, an manchen hohen Stellen ging sie aber vom Körper weg, woraus eine schrille Tongebung resultierte. Auch Edith Lorans war ihr überlegen, die mit wunderbar samtigem und geschmeidigem, bestens fokussiertem und sehr emotional geführtem Sopran vorbildlicher italienischer Schulung die Liu sang. Einen vollklingenden, sonoren und ausdrucksstarken Bass brachte Don Lee für den Timur mit. Die Partien des Mandarins und des Ping wurden in Ulm zu einer Rolle zusammengefasst.

Tomasz Kaluzny sang sie mit insgesamt solidem Bariton, der ihm aber manchmal etwas in den Hals rutschte. Einen sehr dünnen und recht kopfig klingenden Tenor brachte Hans-Günther Dotzauer für den Altoum und den Pang mit. Da war es um Thorsten Sigurdsson s Pong schon etwas besser bestellt. Die Stimme des Verurteilten gab Joung-Woon Lee. Als Kammerfrauen waren Jung Youn Kim und Helen Willis zu erleben. Ordentlich präsentierte sich der von Hendrik Hass einstudierte Chor und Extrachor des Theaters Ulm.

Eine Freude war es, dem Philharmonischen Orchester der Stadt Ulm zuzuhören, das unter der versierten Leitung von GMD Timo Handschuh zu großer Form auflief. Wieder einmal war zu konstatieren, welche hervorragende Aufbauarbeit Handschuh mit den Musikern in den letzten Jahren geleistet hat. Da wurde in höchstem Maße klangschön, konzentriert und mit feurigem Elan musiziert. Gewaltig erklangen die Massenszenen, nahmen aber niemals einen allzu bombastischen Klang an. Und die gefühlvollen Szenen liefen an keiner Stelle Gefahr, ins Kitschige abzugleiten. Darüber hinaus zeichnete sich Handschuhs beeindruckendes Dirigat durch eine einfühlsame Herausarbeitung der chinesischen Einflüsse auf die vielschichtige Partitur aus.

Fazit: Ein gelungener Abend, dessen Besuch durchaus empfohlen werden kann.

Ludwig Steinbach, 18.12.2015

Die Bilder stammen von Jochen Klenk