Würzburg: „Carmen“

Besuchte Aufführung: 25.2.2015 (Premiere: 24.1.2015)

Überschreiten von Grenzen

„Verachtet mir die kleinen Häuser nicht“: Zumindest in musikalischer und gesanglicher Hinsicht hat mein Wahlspruch an diesem Abend wieder einmal eine eindrucksvolle Bestätigung gefunden. Es ist schon erstaunlich, was für ein hohes Niveau das schon oft bewährte Theater Würzburg in dieser Beziehung aufweist. Die künstlerischen Leistungen waren an diesem Abend einmal mehr fast durchweg hervorragend.

Laura Brioli (Carmen), Bruno Ribeiro (Don José)

Das begann schon bei GMD Enrico Calesso, dem zusammen mit dem sich mächtig ins Zeug legenden Philharmonischen Orchester Würzburg eine gänzlich unkonventionelle, einen mächtigen Eindruck hinterlassende Ausdeutung der Partitur gelang. Von Anfang an war klar, dass das in musikalischer Hinsicht ein fulminanter Abend werden würde. Schon die von Calesso in äußerstem Presto genommene sowie einen ungemein feurigen Impetus aufweisende Ouvertüre ging stark unter die Haut. Nur bei Dan Ettinger in Mannheim hat man die Einleitung zu Bizets Oper noch schneller und rasanter gehört. Im Folgenden nahm Calesso die Tempi etwas zurück. Jedwedem traditionellem klanglichem Schwulst, wie ihn so mancher andere Dirigent bei diesem Werk pflegt, erteilte er eine deutliche Absage und erlag auch nicht der Versuchung, es rein verismomäßig auszuloten. Seine Auffassung von der Musik war vielmehr von großer Klarheit, Prägnanz und Spannung geprägt. Imponierend war zudem die ungeheure Vielfalt an neuen spezifischen Farben, mit der der Klangzauberer Calesso das begeisterte Publikum beglückte und sich am Ende zu Recht über großen Beifall freuen durfte. Dieser famose Dirigent hat sich erneut für die größten Häuser als würdig erwiesen.

Silke Evers (Micaela), Chor

Laura Brioli sang die Carmen mit vollem, rundem Mezzosopran, dem es indes etwas an betörender Sinnlichkeit fehlte – ein Manko, das sich in ihrer völlig unerotischen Darstellung fortsetzte. Eine femme fatale war sie wahrlich nicht. Da hätte man lieber die Co-Besetzung Sonja Koppelhuber gehört, die über viel mehr erotische Ausstrahlung und einen bestens fokussierten, tiefgründigen Mezzosopran verfügt, in dieser Aufführung aber nur die kleine Partie der Mercedes sang, dies indes ausgezeichnet. Einen guten Eindruck hinterließ Bruno Ribeiro in der Rolle des Don José. Darstellerisch zeigte er sich recht impulsiv und hat das Zerrissene der Figur, ihre krankhafte Eifersucht, aber auch die gegenüber Michaela gezeigte zärtliche Seite gut vermittelt. Auch stimmlich vermochte er mit seinem eine treffliche Fundierung aufweisenden, imposanten Tenor für sich einzunehmen. In noch stärkerem Maße gelang dies Silke Evers mit in jeder Lage bestens sitzendem und elegant geführtem, warm und gefühlvoll eingesetztem lyrischem Sopran als Micaela. Ein mit großer vokaler Kraft und robust singender Escamillo war der junge Bryan Boyce, dessen blendendes, jugendliches Aussehen seine Wirkung auf Frauen glaubhaft machte. Die ihm im Augenblick noch etwas abgehenden Stimmfarben werden sich im Laufe der Zeit sicher noch einstellen. Nichts auszusetzen gab es an der kräftig singenden und über eine sichere Höhe verfügenden Frasquita von Anja Gutgesell. Dass die beiden Schmuggler so schön im Körper singen wie der für den Dancairo eine echte Luxusbesetzung darstellende Bariton Daniel Fiolka und Joshua Whitener als Remendado, erlebt man nicht alle Tage. Sogar an den größten Häusern sind die beiden Banditen fast durchweg eine Domäne leichter, kopfiger Stimmen. In jeder Beziehung solide war Herbert Brands Zuniga, der auch mal die Hosen herunter lassen durfte. Gegenüber seinen famosen Kollegen fiel der den Morales vor allem in der Höhe dünn singende Paul Henrik Schulte ab. Ein Genuss war es, dem von Michael Clark bestens einstudierten Chor und Extrachor des Mainfrankentheaters zuzuhören.

Laura Brioli (Carmen)

Bleibt noch die Inszenierung von Sabine Sterken im Bühnenbild und den Kostümen von Martin Rupprecht. Sicherlich war es kein Fehler, jeglichem altbackenem spanischem Folklore-Kitsch abzuschwören und mit einer eher abstrakt-nüchternen Regiearbeit aufzuwarten, die zudem symbolisch und psychologisch ausgerichtet war. Frau Sterken siedelt das Geschehen demgemäß auch nicht in Sevilla an, sondern in einem neutralen Ambiente, in dem Angehörige der verschiedensten Nationen aufeinandertreffen. Dem entspricht es, dass die von der Regisseurin persönlich neu eingerichteten Dialoge manchmal in unterschiedlichen Diktionen gesprochen werden. Trefflich wird dadurch zum Ausdruck gebracht, dass die hier behandelten Konflikte um Liebe und Eifersucht nicht örtlich begrenzt sind, sondern in allen Ländern der Welt auftreten können. Wenn von den beiden Schmugglern dann doch mal herkömmliche Folklore-Kleider an die Zigeunerinnen verteilt werden, ist das nur als Reminiszenz an einen längst überkommenen Aufführungsstil zu werten, wie er beispielsweise in der Arena von Verona praktiziert wurde. Den Regenschützen, die dort bei schlechtem Wetter an das Auditorium verteilt werden, ist das nicht so ganz gelungene Kostüm von Micaela nachempfunden. Zwar räumt das Regieteam hier ganz schön mit Klischees auf, bringt dafür aber neue ins Spiel, was nicht unbedingt hätte sein müssen.

Anja Gutgesell (Frasquita), Sonja Koppelhuber (Mercedes)

Konzeptionell setzt Frau Sterkens Regiearbeit beim Bühnenbild des ersten Aktes an, der in einer Grenzstation spielt. Eine Unmenge leerer Wasserflaschen, aus denen der Posten aufgebaut ist, zeugt von der langen Zeit, die die Soldaten hier schon Wache schieben müssen. Eine sich längs von der Rampe bis zum Hintergrund erstreckende Blutlinie nimmt einerseits das tödliche Ende voraus, ist aber andererseits als Grenzlinie aufzufassen. Und darum geht es in dieser Inszenierung: Um das Überschreiten von Grenzen, und zwar nicht nur äußerer, wie es die Schmuggler tun, sondern insbesondere auch innerer, was auf fast alle Protagonisten zutrifft. Am Rande der Gesellschaft lebend versuchen die sich in Grenzsituationen befindlichen Handlungsträger aus den sie beengenden Verhältnissen auszubrechen und noch einmal neu zu beginnen – ein Unterfangen, dem indes kein Erfolg beschieden ist. Don José scheitert kläglich an seiner Eifersucht und erst recht Carmen, die die Regisseurin als ganz gewöhnliche Alltagsfrau vorführt, deren Streben nach Freiheit zum Scheitern verurteilt ist. Wenn sie im Schlussduett auf ein kleines Podest steigt und die amerikanische Freiheitsstatue imitiert, wirkt das nur noch aufgesetzt und macht auch bei dem es ihr gleichtuenden José keinen Sinn. Trotz eines insgesamt durchaus überzeugenden Konzepts war nicht alles in dieser Produktion gelungen. Szenisch gab es – vor allem in den Chorszenen – hier und da einige Löcher, und dass Escamillo die erste Strophe seiner berühmten Arie vom Dach der mit einem laufenden Fernseher ausgestatteten Taverne des Transvestiten Lilias Pastia singen musste, war auch nicht gerade der große Wurf. Alles in allem haben wir es hier mit einer lediglich mittelmäßigen Inszenierung zu tun.

Bryan Boyce (Escamillo), Bruno Ribeiro (Don José)

Fazit: Eine Aufführung, deren Besuch sich wegen Calesso und der größtenteils hervorragenden stimmlichen Leistungen sehr, von der Regie her aber weniger gelohnt hat. Auf was er mehr Wert legt, muss jeder für sich entscheiden.

Ludwig Steinbach, 28.2.2015

Die Bilder stammen von Falk von Traubenberg