Premiere am 15.06.2021
Endlich geschafft: erste wirkliche Opernpremiere in Paris seit 16 Monaten, mit dem hiesigen Regiedebut von Rolando Villazon – erfrischend!
Wie wunderbar: endlich wieder eine wirkliche „live-Opernpremiere“ in Paris nach der längsten Zwangspause der französischen Operngeschichte. Meine letzte Rezension war ante pandemia im Februar 2020, wo man mich in die Generalprobe von „Manon“ an der Pariser Oper geschleust hatte, weil die Premiere wegen dem langen Streik ausfallen würde. Diese Produktion wurde dann als erster Stream aus Paris am 17. März 2020 ausgestrahlt – und ab dann gab es eigentlich (außer ein paar weniges Streams) kaum noch etwas zu berichten… Was sich in Paris und Frankreich in 16 traurigen Monaten alles abgespielt hat, war in den Medien zu lesen. Aber leider meist ohne genaue Informationen, was das konkret für den hiesigen Kultursektor bedeutet. Während in Wien und Deutschland im Mai die Theater wieder aufgingen und Helga Rabl-Stadler mit einer bewundernswerten Hartnäckigkeit die Salzburger Festspiele durchgeboxt hat, wurde hier nicht einmal über eine eventuelle Wiedereröffnung des Kultursektors im Sommer 2020 diskutiert. Erst im Mai, auf Druck der erstaunlich unkritischen Medien, als langsam bekannt wurde, dass in allen Nachbarländern Frankreichs die Theater wieder aufgegangen waren, hat Präsident Macron in seiner 5. kriegerischen Fernseh-Rede ein erstes Wort zur Kultur gesagt: „darüber wird diesen Sommer nachgedacht werden“. Das war’s.
Was von dem einst blühenden Pariser Opernleben übriggeblieben ist
In dieser Situation warfen drei von den vier Operndirektoren in Paris das Handtuch. Stéphane Lissner verließ als erste Ratte das sinkende Schiff, mit einer skandalösen Abfindung in Betracht des Defizits von über 50 Millionen Euro, das er der Pariser Oper hinterlässt. Sein Nachfolger Alexander Neef war zu dem Zeitpunkt noch in Kanada, wo er natürlich nicht von einer Minute auf die andere seinen laufenden Vertrag kündigen konnte, und leitete das Haus per interim per Zoom. Er hat es inzwischen zumindest geschafft, einen neuen Musikdirektor zu ernennen: Gustavo Dudamel (der in September antreten wird). Die Direktorin des Châtelet verschwand auf Druck der Gewerkschaften (sie wurde als „zu autoritär“ empfunden) und der Direktor der Opera Comique benutzte seine „Ferien“ um sich noch andere Häuser unter den Nagel zu reißen (er wird ab September drei Theater und die große neue Philharmonie leiten). Nur ein französischer/Pariser Operndirektor hat sich in diesen schwierigen Zeiten als Kapitän gezeigt, der sich Tag und Nacht öffentlich für sein Haus gekämpft hat um es vor einem drohenden Untergang zu bewahren: Michel Franck von dem Théâtre des Champs-Elysées. Ihm und seinem Team gebühren deswegen die erste Rezension bei der Wiedereröffnung. In welchen Bedingungen sie gearbeitet haben, kann man sich in Deutschland und Österreich gar nicht vorstellen. Nie gab es Klarheit und ein verbindliches Wort von der Regierung für den kulturellen Sektor, jede kleinste Öffnung musste hart erkämpft werden und konnte in der nächsten Minute wieder gekündigt werden. Im September hat das Théâtre des Champs-Elysées als einzige Oper in Paris versucht, den normalen Spielbetrieb wieder auf zu nehmen und fantastisch kommuniziert: „bitte kommen Sie, damit Kunst lebendig bleibt“ („pour que le spectacle vivant reste vivant“). Es ging inzwischen um ihr nacktes Überleben, denn das Theater bekommt keine Subventionen (nur die laufenden Kosten von der Caisse des Depôts, der das Gebäude gehört). Und wie schwierig es auch war, sie haben wirklich live gespielt: am 16. September als erste Oper in Frankreich den „Messias“ von Händel (Übernahme aus Salzburg in der Inszenierung von Bob Wilson) – mit neuen Sängern, die quasi über Nacht einspringen mussten, weil ihren Kollegen an der Grenze die Einreise nach Frankreich verwehrt wurde etc. Im Oktober mussten die Vorstellungen vorverlegt und gekürzt werden wegen der Ausgangssperre um 21 Uhr, dann auf den Nachmittag verlegt werden als die schon um 18 Uhr begann – bis Ende Oktober der ganze kulturelle Sektor wieder von einem Tag auf den anderen stillgelegt wurde. Offiziell bis zum 10. Dezember. Daraus wurde dann in letzter Sekunde: „über den kulturellen Sektor werden wir Ende Januar entscheiden“. Endlich durften die Theater und Museen in Frankreich am 19. Mai wieder öffnen. Doch weil inzwischen niemand mehr an die Versprechungen der Regierung glaubte, war dann auch beinahe niemand startbereit und wurde in den wenigen Theater, die wohl öffneten, erst einmal gestreikt…
Konkret heute: Oper ohne Orchestergraben
Dieses muss man alles in Betracht ziehen, wenn man heute in eine Opernaufführung in Frankreich geht (oder sie per Stream folgt). Das allgemeine Umfeld und die konkreten Arbeitsbedingungen lassen sich nicht mit denen den Nachbarländern vergleichen (man sieht es allein schon daran, dass die Chöre hier mit Gesichtsmasken singen müssen). Weil das Théâtre des Champs-Elysées im Dezember das ganze vorbereitete, z.T. schon geprobte Weihnachtsprogramm ersatzlos streichen musste, hat es jetzt erst am 19. Mai mit den Proben angefangen – davor durften sowieso nicht mehr als 6 Menschen in einem Raum sein (Ausnahmen gab es, aber nicht für die Kultur). So mussten die Konzeptionsgespräche und sogar die ersten Kostümproben (!) per Zoom stattfinden und quasi alle Proben mit Gesichtsmaske für alle. Und in dieser Situation erkrankte die Sängerin Nadine Sierra an Corona, musste 3 Wochen in Quarantäne und durch Pretty Yende ersetzt werden. Deswegen erst einmal alle Achtung an alle Mitwirkenden für ihre Nerven und ihr Durchhaltevermögen, dass es überhaupt zu dieser Premiere kam. Und die nun folgenden Anmerkungen zu dem künstlerischen Resultat, kann man nur bedingt den Künstlern anlasten, da sie offensichtlich mit denen – in meinen Augen manchmal recht abstrusen – französischen Corona-Maßnahmen zu tun haben. Ganz konkret: weil die Orchestermusiker 1 m Abstand wahren müssen, passen sie nicht mehr in einen Orchestergraben. Dieser wurde also hochgefahren und das Orchester verteilte sich in das vordere Drittel des Parketts. Musikalisch bedeutet dies aber, dass die Sänger auf der Bühne ein für sie riesig wirkendes Orchester sehen und das Gefühl haben, dass sie darüber mit Kraft in den Saal singen müssen. Gleichzeitig musste der Dirigent sein Orchester, das zur Hälfte hinter seinem Rücken sitzt, die ganze Zeit bremsen, damit sie nicht die Sänger übertönen. Das ist gelungen, die Balance stimmte – aber natürlich nicht damit zu vergleichen, wenn das gleiche Team mit dem üblichen Orchestergraben hätte arbeiten können.
Ein persönliches, stringentes und originäres Regiekonzept
Der Clou des Opernabends war das Pariser Debüt als Opernregisseur von Rolando Villazon, den man wohl nicht mehr vorzustellen braucht. Begabt, sympathisch und in seinem Wohnort Paris bekannt als „Medientiger“ (so wird er auch im Programmheft vorgestellt). Nach einer ersten Inszenierung vor vielen Jahren in Lyon und zehn weiteren an anderen Orten nun also Paris. Er beherrscht inzwischen sein Handwerk und hat wirkliche Empathie mit den Figuren. Sein Konzept ist persönlich, stringent und originär, was heute nicht mehr selbstverständlich ist. So hat sich der damals überbeschäftigte Marco Arturo Marelli für seine Inszenierung an der Wiener Staatsoper mehr als die Hälfte seiner Ideen rechts und links zusammengeklaut (u.a. aus meiner Inszenierung 1998 in Lausanne mit Natalie Dessay), die dann kein stringentes Resultat ergaben, weil es eben nicht seine eigenen Ideen waren. Das ist bei Villazon nicht der Fall. Sein Zugang ist sehr persönlich als ob er sich mit der Titelheldin identifiziert. Eigentlich ein Glück, dass in letzter Minute eine schwarze Sängerin besetzt wurde, denn er inszeniert Amina als „schwarzes Schaf“, das in dem streng protestantischen Schweizer Bergdörfchen dauernd aus der Reihe tanzt, deswegen gerügt wird und sich in ihre Träume flüchtet. Ihr Schlafwandeln ist also eine Flucht in eine andere Welt, wo sie „Elfen“ findet (drei Tänzerinnen), mit denen sie ausgelassen tanzen kann. So gelingt die erste Schlafwandlerarie berührend schön. Für die zweite hatte der erfahrene Bühnenbildner Johannes Leiacker offensichtlich eine zweite Option in der Höhe (Amina läuft im Libretto lebensgefährlich über einen hohen Balken). Doch ich vermute, dass wegen dem großen Orchester im Parkett, dieser Plan nun zu weit hinten lag und in letzter Minute nach vorne verlegt werden musste – eher schlecht als recht. Damit verlor das schöne Bühnenbild seinen eigentlichen Sinn und entbehrte der wichtigen Schlussszene jegliche Spannung. Da konnte Pretty Yende so berührend spielen wie sie wollte – szenisch klappte es nicht.
Über wie man die Rolle der Amina heute besetzten soll/kann ist seit 50 Jahren sehr viel geschrieben worden. Giuditta Pasta, für die Vincenzo Bellini diese Oper schrieb, war ein „soprano sfogato“, ein Mezzo mit einer Höhe, „die nicht vom gleichen Metall war“, so wie es Stendhal bewundernd schrieb und weswegen nicht nur Bellini ihr verliebt zu Füßen lag (er hat die „Sonnambula“ in ihrem Haus am Comer See komponiert). Im gleichen Jahr sang sie auch noch „Norma“ und Donizettis „Anna Bolena“ – alles natürlich direkt für sie komponiert. Nach meiner Einschätzung war Joan Sutherland die Sängerin, die diesem Stimmtypus in der Roööe der Amina am nächsten erreichte. Aber viele andere Sängerinnen waren natürlich auf ihre Art ebenfalls überzeugend, auch wenn man Maria Callas als „zu groß“ und Natalie Dessay als „zu schmal“ kritisierte. Essentiell für die Rolle ist das Ausschmücken der Reprisen, die dem Sänger überlassen wird und wo sich z.B. Sutherland und Dessay stupende Koloraturen ausdachten. Bei Pretty Yende fehlt dies ganz und gar (nur etwas in der Reprise der letzten Arie). Aus dem einfachen Grund, dass sie schon bei ihrem Auftrittsrezitativ „Care Compagne“ mit einem Vibrato einsetzt (dort eigentlich völlig überflüssig – aus Angst um nicht über das Orchester zu kommen?). Und von einem großen Vibrato kann man schwer in leichte, feine Koloraturen wechseln.
Sandra Hamaoui verzierte als Einzige die Reprise ihrer zweiten Arie (die dankensweise nicht gestrichen wurde), klang aber in ihrer ersten und auch sonst erstaunlich hart und fahl (Premierenstress bei einem Rollendebüt?). Die Rolle des Elvino ist auch nicht leicht zu besetzen, da sie für heutige Tenöre unangenehm hoch liegt. Natürlich gibt es viele Belcanto-Sänger, die dies spielend meistern, aber Francesco Demuro (den wir als guten Alfredo im Ohr haben) gehört (noch) nicht dazu. Gleich bei seinem ersten hohen Tönen spürte man Stemmen und Anstrengung und als der Abend gelaufen war und er nur noch „Io piu non reggo“ in Aminas Schlussarie einfügen musste, sang er dies ohne Mühe. (Premierenstress bei einem Rollendebut?, Erkältung bei der schwühlen Hitze zur Zeit in Paris?). Wirklich schade, denn seine tiefer liegende Arie „tutto è scolto“ sang er berührend schön, mit einem perfekten Legato, in dem er Bellinis berüchtigt langen musikalischen Phrasen – Debussy nannte sie „Schwanenhälse“ – wirklich in einem langen Bogen aussang ohne zu atmen. Das waren die einzigen Belcanto Momente des Abends. Alexander Tsymbalyuk donnerte als Rodolfo seinen Bass in den Saal, woneben der schmale Mezzo von Annunziata Vestri sich als Teresa nicht behaupten konnte, Marc Scoffoni als Alessio hölzern klang und der Chorist Jeremy Palumbo in der kleinen Rolle des Notars kaum über die Rampe kam.
Dirigieren mit Rücken zum halben Orchester
Wie viel kann man davon dem Dirigenten Riccardo Frizza anlasten? Als musikalischer Direktor des Donizetti-Festivals in Bergamo gilt er als ein Belcanto-Spezialist. Das spricht auch aus seinem überaus interessanten Interview im Programmheft. Aber das hörte man leider nicht an diesem Abend. Sein Dirigat klang hölzern und vor allem viel zu langsam für die Sänger (die in Atemnot kamen). Kein Accelerando in den Reprisen und kein einziges Rubato – vielleicht ist dies einfach nicht möglich, wenn die Hälfte des Orchesters nur den Rücken des Dirigenten sieht, aber nie seine Augen? Das Orchestre de chambre de Paris – seit letztem Sommer unter der Leitung des Pianisten und nun Dirigenten Lars Vogt – spielte lupenrein und nicht zu laut und der Choeur de Radio France sang textverständlich – auch mit Gesichtsmasken. Der Abend endete mit einem „Rolando-Streich“. Im Programmheft-Interview gestand er, dass er bei den Proben noch nicht wusste, wie er das Ende inszenieren wollte. Seine Lösung wurde dann sehr persönlich: mitten im Lieto Fine bringt die Rabenmutter Teresa einen Mantel und Koffer für Amina: sie muss nun das Dorf verlassen, wo sie für zu viel Unruhe gesorgt hat. Entgegen des Librettos heiraten Elvino und Lisa (!), Amina geht. Als Outcast geboren, wird sie hier immer ein Outcast bleiben. Das Pariser Publikum war empört und empfing Rolando mit Buhrufen, die ihn offensichtlich köstlich amüsierten und wonach er sich mit Bravour eine rote Clownsnase aufzog (passend zu seinem gelben T-Shirt). Irgendwie war das alles sehr Erfrischend. Und dann wurden wir reihenweise aus dem Theater gedrängt (die oberen Ränge müssen warten bis die unteren das Theater verlassen haben) bis wir alle schnell nach Hause eilten – mit Maske, die wir hier überall seit einem Jahr tragen müssen, auch outdoor. Und in Eile, denn ab nun 23 Uhr herrscht in Frankreich noch immer ein striktes Ausgehverbot.
Waldemar Kamer
(c) der Bilder: Vincent Pontet
Bis zum 26. Juni im www.theatrechampselysees.fr
Am 4. September auf France Musique zu hören: www.francemusique.fr
In den nächsten Spielzeiten in Nizza, Dresden und New York (an der Met) geplant.